Nachfolgend ein Beitrag vom 8.11.2016 von Bieg, jurisPR-FamR 23/2016 Anm. 6

Leitsätze

1. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt die Schutzpflicht des Staates, für nicht einsichtsfähige Betreute bei drohenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter strengen Voraussetzungen eine ärztliche Behandlung als letztes Mittel auch gegen ihren natürlichen Willen vorzusehen.
2.
a) Im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG kann Vorlagegegenstand auch eine Norm sein, bei der das Gericht eine Ausgestaltung vermisst, die nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.
b) Besteht ein gewichtiges objektives Bedürfnis an der Klärung einer durch eine Vorlage aufgeworfenen Verfassungsrechtsfrage, kann die Vorlage trotz Erledigung des Ausgangsverfahrens durch den Tod eines Hauptbeteiligten zulässig bleiben.

A. Problemstellung

Der BGH hatte dem BVerfG mit Beschluss vom 01.07.2015 (XII ZB 89/15) die Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18.02.2013 (BGBl I 2013, 266) mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, soweit er für die Einwilligung des Betreuers in eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgt. Das BVerfG hat diese Frage nunmehr entschieden.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Dem Vorlagebeschluss des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Bei einer psychisch erkrankten Betroffenen, die nicht in der Lage war, ihren Willen frei zu bilden und die aufgrund körperlicher Erkrankungen nicht mehr in der Lage war, sich selbst fortzubewegen, wurde eine schwere, aber behandelbare Krebserkrankung festgestellt, die die Betroffene ablehnte. Der BGH sah die Voraussetzungen für die Genehmigung der von der Betreuerin beantragten Zwangsbehandlung der Krebserkrankung als nicht gegeben an, da die Betroffene nicht untergebracht werden müsse und außerhalb einer Unterbringung die Zwangsbehandlung vom Gesetz nicht erlaubt sei. Da er hierin einen Verstoß des Gesetzgebers durch eine gesetzgeberisches Unterlassen sah, legte er die Frage dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Entscheidung vor.
Das BVerfG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass § 1906 Abs. 3 BGB mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit unvereinbar ist, als eine medizinische Zwangsbehandlung für stationär behandelte Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, auch bei Gefahr schwerwiegender gesundheitlicher Beeinträchtigungen ausgeschlossen ist.
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gewähre nicht nur ein subjektives Abwehrrecht, sondern begründe auch staatliche Schutzpflichten. Hinsichtlich unter Betreuung stehender, nicht einsichtsfähiger Menschen verpflichte Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des Schutzes vorzusehen. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssten dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. Die Schutzpflicht des Staates habe im Falle der Betreuten ihren Grund in deren gesteigerten Schutzbedarf, sofern diese nicht zur Einsicht in die konkrete Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme fähig sind und darum Gefährdungen von Leib und Leben ausgeliefert wären, ohne in Freiheit selbst für den eigenen Schutz sorgen zu können. Hinsichtlich dieser Personen gebiete die grundrechtliche Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen, dass der Staat auch gegen den erkennbaren natürlichen Willen Maßnahmen zum Schutz vor schwerwiegenden Gefährdungen ergreife. Die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Hilflosen überwiege im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen und deren körperlicher Integrität, wenn mit der zur Abwehr der Gefahr notwendigen medizinischen Maßnahme keine besonderen Behandlungsrisiken einhergehen und es auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür gebe, dass gerade die Behandlungsverweigerung dem ursprünglichen freien Willen der Betreuten entspricht. In diesem Fall sei das Ergebnis der Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten offensichtlich vorgezeichnet. Der Gesetzgeber sei jedoch im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte materielle und verfahrensrechtliche Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsbehandlung zu normieren. Dabei sei der freie Wille der Betreuten zu respektieren. Die Regelung des § 1906 BGB könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass sie eine medizinische Zwangsbehandlung auch ohne freiheitsentziehende Unterbringung zuließe, oder dass sie eine solche Unterbringung erlaubte, ohne dass sie ihrerseits durch den Willen und die Fähigkeit des Betreuten, sich räumlich zu entfernen, zwingend geboten wäre.
Damit werde stationär behandelten Betreuten, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil, selbst wenn in ihrer Person sämtliche materiellen Voraussetzungen einer verfassungsgebotenen Schutzpflicht zweifelsfrei vorlägen und die verfahrensrechtlichen Anforderungen eingehalten werden könnten. Insoweit genüge die Rechtslage für Betreute nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Das BVerfG hat dem Gesetzgeber einen Auftrag zur unverzüglichen Regelung dieser Fallgruppe erteilt und die Gerichte zu einer Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB auch auf stationär behandelte Betreute, die sich einer Behandlung räumlich nicht entziehen können, bis zu einer Neuregelung aufgefordert.

C. Kontext der Entscheidung

Im Kontext der Entscheidung stellt sich auch die Frage, inwieweit eine Zwangsbehandlung generell zulässig ist. Das BVerfG hat ausdrücklich erwähnt, dass es keiner Entscheidung bedürfe, ob die Rechtslage auch insofern der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht genügt, als § 1906 BGB mit der Beschränkung der ärztlichen Zwangsbehandlung auf freiheitsentziehend Untergebrachte nicht nur die stationär Behandelten, sondern auch alle anderen Betreuten in ambulanter Behandlung von dieser Möglichkeit ausschließt. Vom Gesetzgeber wird zumindest die Frage zu beantworten sein, ob generell eine Zwangsbehandlung für alle stationär behandelten Betreuten zulässig sein kann, die nicht geschlossen untergebracht werden müssen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein dementiell erkrankter Betreuter, der sich im Krankenhaus aufhält, dieses noch verlassen könnte aber nicht möchte, an einer somatischen Erkrankung behandelt werden muss, deren Behandlung er aufgrund seiner Demenz ablehnt.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung bringt für einen Teilbereich der Frage der Zwangsbehandlung Rechtssicherheit. Absolut notwendig ist jedoch, dass der Gesetzgeber unverzüglich handelt und sich generell mit der Frage der Zulässigkeit der stationären Zwangsbehandlung befasst.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Das BVerfG hat klargestellt, dass zwar schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein kann. Eine Norm könne jedoch nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt werden, wenn die Vorlage damit begründet wird, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Sachverhalte oder Personengruppen gegen Gleichheitsrechte verstoße. Gleiches gelte für den Fall, dass die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm vermisste Ausgestaltung nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten sei. Eine Erledigung des Ausgangsverfahrens, die Betroffene war vorliegend verstorben, habe regelmäßig auch die Erledigung des Vorlageverfahrens zur Folge. Die Befriedungsfunktion der Normenkontrolle könne es jedoch – wie vorliegend – rechtfertigen, ausnahmsweise die vorgelegte Frage nach der Gültigkeit einer Norm gleichwohl nach Erledigung des Ausgangsverfahrens zu beantworten, wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis fortbestehe.

Ärztliche Zwangsbehandlung bei untergebrachten Betreuten
Denise HübenthalRechtsanwältin
Ärztliche Zwangsbehandlung bei untergebrachten Betreuten
Birgit OehlmannRechtsanwältin