Arzneimittel: Ein Fest für die Gesundheit

Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. In losen Abständen veröffentlichen wir hier (teilweise auszugsweise) einige seiner informativen und gleichermaßen humorvollen, oftmals auch sehr bissigen Beiträge und Kolumnen. Viele zeichnen sich durch Erinnerungen an (nicht nur) seine Kindheit und Jugend oder aktuellen Beispielen aus Politik, Gesellschaft und Zeitgeschehen aus und lassen die in diesem Zusammenhang „gezeichneten“ Bilder klar vor Augen erscheinen – mit einem Wort: lesenswert!


22. Dezember 2016

Der EuGH hat die Preisbindung für Arznei aus dem Ausland gekippt. Sind wir nun der Krankheit oder dem Apothekensterben ausgeliefert? Gut, dass wir den Gesetzgeber haben!

Vorwort

Die Kolumne dieser Woche wurde, wie stets, am Sonntag geschrieben, einen Tag vor dem Anschlag von Berlin. Es wäre unangemessen gewesen, sie am Tag nach dem Anschlag zu veröffentlichen. Sie darf aber heute – unverändert – erscheinen. Vor allem Schrecken, aller Trauer und aller Ratlosigkeit gehen die Dinge und die Zeit, wie immer, weiter. Wir trauern um die Opfer, aber wir sollten vor den Tätern keinen Schritt zurückweichen und nichts preisgeben. TF

Nun zum Thema

Es ist wieder so weit. Weihnacht. Ein, wie Sie wissen, deutsches Fest, patentiert vom Stuttgarter Ingenieur Gotthilf Aaron Weihnacht im Jahr 1492 – oder war es 1789? Aus purer Verzweiflung übrigens, weil er am verkaufsoffenen Sonntag vergessen hatte, genügend Halal-Essen für zwölf Söhne und dreiundzwanzig Schwiegertöchter einzukaufen, und deshalb kurzfristig auf Wildschweinkeule mit Rosenkohl umsteigen musste. Er setzte winzig kleine LED-Lichtlein in eine winzig kleine Douglastanne, auf dass es etwas schummrig werde, und behauptete, bei der Speise auf den unterbelichteten Tellerchen handele es sich um Hammel mit Brei von Kichererbsen an Pulpo-Jus. So kam die Sache in Gang. Ein kleiner Schritt für den Propheten aus Nazareth, ein großer für Amazon, den Herrn der Welt. Der deutsche Gesetzgeber reagiert, Sie wissen es, hochsensibel und blitzschnell auf unerträgliche Gesetzeslücken und dringende Verbotsnotwendigkeiten. Das kennen wir, das lieben wir, das brauchen wir. Berichtenswert ist dennoch, dass derzeit ein neuer Geschwindigkeitsrekord aufgestellt werden soll.

Am 19. Oktober 2016, vor gerade zwei Monaten, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel insoweit nicht gelte, als davon auch Apotheken im europäischen Ausland betroffen sind, die nach Deutschland liefern. Das sind vor allem sogenannte „Versandapotheken“, eine, wie die Deutsche Apotheker Zeitung (DAZ) recherchiert hat, ziemlich windige Branche. Das zeigen ja schon ihre unseriösen Namen: „Doc Holiday“ oder „Is was, Doc“ klingen ja nun wirklich nicht, als sei der Versand von kortisonhaltigem Nasenspray dort in guten Händen! Hinzu kommt der verdächtige Versandort in den Niederlanden, einem Land, dessen Volkswirtschaft vom Pommes- und Drogenhandel beherrscht wird.

Seit es diese Entscheidung gibt, rätseln der Privatpatient und das AOK-Opfer darüber, was ihnen lieber ist: Ein niedrigerer Preis mit chinesisch bedrucktem Beipackzettel, oder ein hoher Preis mit der menschlich zugewandten Beratung, der liebe Patient möge die in den letzten sieben Tagen vergessenen Medikamente bitte nicht nachträglich alle auf einmal einnehmen, und er möge die Lutschtabletten einzeln im Munde zergehen lassen, nicht aber eine Packung davon unters Hundefutter mischen oder im Spinat mitkochen?

Wir, die wir auf logobestückten Fußmatten – jenen vom gewerbesteuerzahlenden Apotheker an mildtätige Unternehmen der pharmazeutischen Industrie untervermieteten halben Quadratmetern – stehen, die Glück verheißenden Bilder an den Wänden anschauen, die an den Großhandel untervermietet sind, die wir vor den duftenden Regalen mit liebevoll angerührten Salben warten, schätzen das Erlebnis der lautstarken Beratung der vor uns stehenden Menschen, die sich mit Realschülerinnen über ihre linke Hüfte oder die Darm-Probleme nach Genuss von Rosenkohl austauschen. Gespannt verfolgen wir den Erfahrungsaustausch zwischen jungen Müttern über die abführende Wirkung von Dinkelgranulat, die weil aus dem sogenannten Buggy Schrei auf Schrei emporsteigt: Gib mir mehr!

By the way: Ein paar Vitamin-Gummibärchen gefällig (100 Gramm 3,99)? Ein Fläschchen Frauengold (750 ml 5,99)? Bitte beachten Sie unser Sonderangebot aromatisierter Vaseline für 19 Euro pro 20 Gramm im Schmuckschuber! Das ist letztlich eine Schicksals-, also Geschmacksfrage.

Einerseits haben Rentner, Patienten, Autofahrer und Steuerzahler, also diejenigen, die täglich zu Milliarden in die Apotheken strömen, um sich mit den allernötigsten Schmerzmitteln zu versorgen, ein Menschenrecht auf die alsbald aus der Regalkulisse herbeistürzende pharmazeutische Assistentin (oder zumindest eine Apotheken-„Helferin“ im stets blütenweißen Kittel und mit kryptografischer Spezialausbildung), die sich über das Rezept des schreibunfähigen Doktors beugt und binnen Sekunden aus dem digitalen Himmel oder dem analogen Schrank genau jenes Heilmittel hervorzaubert, das die pharmazeutische Forschung exakt für den Spezialfall ihres persönlichen Leidens entwickelt hat.

Andererseits haben die Genannten ein Menschenrecht auf Schweinehackfleisch für 4,99 das Kilo, auf drei Millionen Tonnen fettarmes Hähnchenbrustfilet von glücklich verstorbenen Hähnen (aktive Sterbehilfe ist hier ausnahmsweise erlaubt) und auf kostenfreie, also auf die anderen umgelegte Vollversorgung mit 100.000 verschiedenen Medikamenten, von denen 90.000 überflüssig, weil wirkungslos sind. Aus lauter Freude über diese Zivilisationsleistung ist der Deutsche bereit, für schmerzbetäubende Drogen nicht nur einen um den Faktor 100 über dem Herstellungspreis liegenden, sondern sogar einen viermal höheren Preis als in Portugal zu bezahlen.

Ach Gott, das ist der Stress! Das ist die neue Zeit, was will man machen! Büroangestellte mit sechs Wochen Regelurlaub leiden durchschnittlich an dreißig weiteren Tagen im Jahr an lendenwirbelsäulenbedingter Sitzunfähigkeit; Polizisten fallen reihenweise in Vernehmungsunfähigkeitstraumata, wenn sie bei einer Festnahme zufällig mal ein bisschen robuster zupacken mussten. Der Pro-Kopf-Verbrauch von zehn Litern reinen Alkohols pro Jahr (83 Liter Wein oder 25 Liter Wodka) für alle Deutschen vom Säugling bis zum Pflegefall trägt zur nationalen Kopfschmerzlage das Seine bei.

Patiententraum, Traumpatienten

Der Mensch im weißen Kittel weiß Rat. In solchen Kitteln steckt oft ein rotbäckiger Wurstverkäufer, meist aber eine anämische Apothekenhelferin. Die Gewandfarbe der jungen Dame (Frauen über 45 sowie Männer jeden Alters sind denknotwendig Chef, denn das Berufsbild „männlicher Apothekenhelfer“ befindet sich noch in der Erprobungsphase) ist zwingend „strahlendweiß“. Denn wir befinden uns ja nicht etwa in einem Einzelhandelsladenlokal mit absurd überteuerten Preisen und entsprechend devotem Dauerlächeln von liebreizenden „Darf ich Ihnen eine kleine Tüte geben“-Verkäuferinnen, und erst recht nicht in einem Showroom der Pharmaindustrie, sondern in einer Agentur des nächstgelegenen Universitätsklinikums, praktisch Tür an Tür mit der Intensivstation. Ungezählte zärtliche Hände träufeln hinter den Apothekenregalen aus blitzblanken Pipetten magische Tropfen in Petrischalen und lesen auf einem weißen Touchscreen ab, ob und wie sich der Durchschnitt des Leidens geändert hat. Sie stehen in ständigem Kontakt mit den verschworenen Doktoren des Non-nocere-Ordens.

Heilung also überall. Wenn schon die doctores med. weiße Kittel tragen zum Auffangen des vergossenen Bluts und zum Einstecken der zum Heilen notwendigen Zahl von Kugelschreibern, dann erst recht die Apothekerin. Sie schenkt uns eine Packung Papiertaschentücher als Dreingabe für den Einkauf von Medikamenten, von deren um 500 Prozent überzogenem Fantasiepreis sie 30 Prozent als kleine Entschädigung für ihre profunde Beratung behalten darf. Ab 250 Euro Einkaufwert gibt’s eine Tüte Vitamin-Gummibärchen obendrauf; aber das reibt ihren Chef dann nächtelang auf, wie einen Verleger die unermesslichen Kosten des Papiers.

Für die Versorgung des lieben Patienten gibt es auf dem Land alle 20 Kilometer, in den Innenstädten alle 200 Meter eine Apotheke. Man erkennt sie am leuchtfarbenroten „A“ oder am Mercedes „Sprinter“, der, mit dem unverschämt gelogenen Schild „eilige Arzneimittel“ versehen, im absoluten Halteverbot vor der Ladentür steht. Sie tragen intellektuell überraschende Namen der Kategorie 1) örtlich: „Süd-Apotheke“ für südlich gelegene, „Mörike-Apotheke“ für an der Mörike-Straße gelegene, 2) medizinhistorisch: „Paracelsus-Apotheke“, „Sauerbruch-Apotheke“ und 3) bildungsbeflissen: „Schiller-Apotheke“, „Timothy-Leary-Apotheke“. Ich finde, man könnte an Kreativität noch zulegen: „Keith-Richards-Apotheke“ zum Beispiel würde mir gefallen, „Heilige-Jungfrau-Apotheke“ oder „Wunder-Apotheke“.

Apropos Kreativität: Kennen Sie die „Apothekengewerkschaft“ Adexa? Den Marketing Verein Deutscher Apotheker (MVDA)? Den Verband der deutschen Versandapotheken (BVDVA)? Ist Ihnen die personelle Besetzung des Vorstands der für Sie zuständigen Landesapothekerkammer geläufig?

Nein? Erstaunlich! Es ist doch Ihr Kniegelenk, um das es hier geht! Wollen Sie sich das von einem hergelaufenen Syrer wegschnappen lassen? Oder von einem arbeitsscheuen Frührentner mit galoppierender Fettleber und Senkspreizfuß?

Liebe Patientin, lieber Patient im genannten Senioren-Status! Also: Liebe Versicherte ab 55 Lebensjahre, also satte dreißig Ihrer knapp einhundert Erdenjahre nach Berufseintritt! Sie sind der Liebling der Pharmazeuten: Wenn Sie in den Morgenstunden nichts zu tun haben. Wenn das Leben ab 58 leer dahingleitet vom Erwachen zum Milchkaffee, von dort zum Stuhlgang und weiter zum Gute-Laune-Vormittagsprogramm. Wenn Sie ab 17.30 Uhr alle Werbesendungen anschauen, in denen sich rüstige Rentner wie Sie dank Gelenkschmiere, Prostata-Präparaten und Haftcremes frisch verlieben. Wenn Sie fürchten, dass Sie genau die Krankheit kriegen oder schon haben, die sie noch nicht kennen. Wenn die lustigen Kreuzfahrten auf gigantischen Schwerölverbrennungsmaschinen vorbei sind, von einem Bazar zum nächsten, für die Sie die Ersparnisse Ihres versunkenen Arbeitslebens verplempern, weil man es einfach nicht ertragen kann, ab 60 alt, unauffällig und unwichtig zu sein und demnächst auch noch sterben zu müssen, obwohl man doch gerade eben noch auf Ibiza einen Halbmarathon gelaufen hat.

Sie sind die Suppe, in welche allmonatlich Deutschlands auflagenstärkste Zeitung geworfen wird, die Apotheken Umschau. Auflage 10 Millionen! Anzeigenseite 65.000 Euro! Hier erfahren Sie, was Sie zu Blasenschwäche und Schwerhörigkeit wissen müssen und doch nie hören wollten. Das ist ja das uralte Leiden des Patienten an der Welt: Sie sieht einfach nicht, wie sehr wir sie lieben. Sie wendet sich von uns ab, wenn wir sie am meisten brauchen. Sie atmet uns aus wie die Gillardeau-Auster die leeren Schalen des Planktons.

Solch trauriger Erkenntnis stemmt sich der Apotheker entschlossen entgegen, schon um seiner eigenen Altersversorgung willen. Wenn Sie ihm ein bisschen an Fürsorge zurückgeben möchten, also etwas Substanzielles für die deutsche Pharmaindustrie und den Tante-Emma-Apotheker tun wollen, dann legen Sie sich eine zünftige chronische Erkrankung zu. Ich meine damit nicht Fußpilz oder Schuppenflechte! Um in die VIP-Klasse aufzusteigen, sollten Sie schon einen Morbus Crohn oder eine mittelgradige Depression vorweisen können. Von Onkologie will ich gar nicht sprechen. Bei Umsätzen ab 10.000 Euro im Jahr merkt sich der Verkäufer Ihren Namen, ab 100.000 Euro hält er Ihnen die Tür auf. Das ist in der Apotheke nicht anders als bei VW.

Maschinen und Schläuche

Wie gesagt: Der EuGH hat Mitte Oktober entschieden, dass in den eisernen Wall der „Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente“ eine kleine Lücke zu sägen sei. Der deutsche Apotheker erbleichte, denn nun ist der Patient dem Tod oder dem Verfall geweiht, da unberaten, und die Forschung bricht zusammen! Millionen von vergifteten Deutschen werden sich durch die Straßen schleppen, vollgepumpt mit niederländischen Versand-Drogen und ohne die leiseste Ahnung, was der Satz „nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit einnehmen“ auf dem Beipackzettel am Ende bedeuten könnte. Vielleicht, dass man die Tablette nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit schlucken solle? Wer weiß es, wer soll solches Fachchinesisch verstehen? Wo sind die Beratungsstellen, die uns aufklären?

Die Patientin weiß, dass die Tabletten, die ihr halfen, gelb sind. Wenn der Herr Doktor ihr plötzlich blaue verschreibt, ist sie sehr besorgt und fragt zur Sicherheit noch mal die Arzthelferin, ob nicht vielleicht doch die gelben besser sind. Nein, sagt die Telefonistin, nehmen Sie mal die blauen, die sind gut. Den im Erdgeschoss waltenden Apotheker ihres Vertrauens fragt die Patientin sodann, ob er auch die grünen empfehlen könne, die sie bis vor drei Jahren genommen hat. Nein, sagt er, nehmen Sie mal die blauen, zur Sicherheit aber hier noch diese Wattestäbchen und eine gelbe Familienpackung „Ratz-Fatz“, für den Fall, dass der Schmerz anhält. Da ist sie froh, und zahlt 19,99 Euro.

Der König

Der Allerkränkste und Oberbedrohteste von allen Patienten aber ist der Apotheker selbst: „Mindestens ein Drittel der Apotheken können nicht mehr existieren, wenn ihnen beispielsweise zwei, drei oder vier chronisch kranke Kunden wegbrechen“, verriet einer von ihnen dem Münchner Merkur am 24. Oktober. Sie haben richtig gelesen: Ein Drittel der Apotheken hängt nach Selbstauskunft dieses Fachmanns an drei bis vier chronisch Kranken und am „Wegbrechen“ dieser Subjekte. Was muss das für ein Schlaraffenland sein, das sich eine solche Umverteilungsmaschine leistet!

Wie gut, dass wir unsere Bundesregierung haben und die sie tragenden Parteien! Sie haben die Bedrohung des deutschen Volkskörpers erkannt und in einer Geschwindigkeit darauf reagiert, die ihresgleichen sucht: „Rechtsänderungen scheinen unausweichlich“, erklärte der Vorsitzende der SPD der DAZ am 8. November.

Erste Gesetzesvorschläge werden diskutiert. Sie sehen vor, einerseits europarechtliche Probleme zu vermeiden, andererseits die unermesslichen Schäden fürs deutsche Apothekerwesen zu kompensieren. Denn eines ist klar: Sobald Ibuprofen oder Lyrica ihren Weg von DocMorris zum deutschen Schmerzpatienten finden, brechen die deutschen Apotheker scharenweise blutleer zusammen und verdorren wie die Bauernhöfe in der Milchschwemme. Samt ihren huschenden Helferinnen.

Also muss man den Dingen auf den Grund gehen. Das ist wie bei der Autobahnbenutzung. Man benötigt zur Steuerung lediglich eine verstaatlichte, realsozialistische Gesundheitsverwaltung zur Einsammlung von Geld, an deren Ausgängen Schläuche ins Freie, also in den sogenannten freien Markt ragen: dicke Schläuche in die Hallen der aufopferungsvoll forschenden Pharmaindustrie, dünne Leitungen in die Arztpraxen und Apotheken. Oben auf der Brücke sitzen bluthochdruckgeplagte, rückenkranke Verordnungsgeber, die an zehntausend Rädern und Hebeln drehen, mit denen der heilende warme Strom von 300 Milliarden Euro pro Jahr aus dem Meer der potenziell Kranken abgesaugt und dahin gepresst wird, wo er hingehört.

Was könnte man also gegen diesen unverschämten Angriff des EuGH tun, der offenbar einfach nicht verstehen will, dass der deutsche Patient der gesunde von morgen ist? Klarer Fall: einen neuen Schlauch legen. Wenn der EuGH einen Bypass in die Niederlande legt, muss halt die Fördermenge etwas erhöht werden; das funktioniert zwischen AOK, Bundesgesundheitsministerium und sogenannten Marktteilnehmern so ähnlich wie bei der Opec.

Das wird bewirkt, indem wir eine Leistung, die seit 100 Jahren die einzige angebliche Legitimation für ein System der Bereicherung ist, einfach noch ein bisschen höher bezahlen: Eine „wesentlich höhere“ Vergütung der aufopferungsvollen Beratungsleistung durch die Apothekenhelferin Ihres Vertrauens ist daher angeblich das Gebot der Stunde. Zufällig ist der Wert dieser bislang skandalös unterbewerteten Leistung um genau den Betrag höher zu vergüten, den die verantwortungslosen ausländischen Versandapotheken dem deutschen Kranken aus der Tasche ziehen könnten.

Sie können künftig also, wenn Sie mögen, Ihr Schmerzmittel für 10 Euro im Internet bestellen. Oder für 20 Euro selbst bei der Apotheke abholen, wo man Ihnen eine Packung Papiertaschentücher schenken und raten wird, das Zeug nicht vor, sondern nach dem Essen einzunehmen.

Der Fall ist geklärt, oder? Wenn Sie naturwissenschaftlich interessiert sind, kommt Ihnen beim Gang zur Apotheke vielleicht folgender Gedanke: Wenn aus dem Schlauchsystem hinten für DocMorris mehr rauskommen, kein deutscher Apotheker aber einen Euro einbüßen soll, muss entweder ein Weihnachtswunder geschehen oder die Ansaugleistung des Röhrensystems erhöht werden.

In der Demokratie heißt der König: Volk. Es sitzt im Parlament wie einst der König auf dem Thron, blickt um sich und überlegt Tag und Nacht, wie man Gerechtigkeit herstellen und für Recht und Ordnung sorgen soll.

Da kamen die Mühseligen und Beladenen, die Entrechteten und Gequälten, die Flüchtlinge und Verfolgten, die Gerechten und Ungerechten. Sie traten vor den König und flehten: Hilf mir, Herr! Gib mir, was ich verdient habe! Bewahre mich in meinem Schmerz! Verzeih mir meine Fehler, und rette mich aus der Not! Behandle mich, wie Du jeden behandelst in der Weisheit Deiner Gerechtigkeit!

Da sann der König lange nach, weinte bitterlich und sprach: „Lieber Patient! Hochverehrter Demenzkranker! Herzallerliebster Rentner! Gern würde ich Dir geben, was Du verdienst. Lange und oft hast Du mich betrogen und wirst es weiter tun mit Deinen erfundenen Krankheiten, Deiner Hypochondrie und Deinem endlosen Herumhocken in den Lesezirkeln der Wartezimmer. Aber ich will nicht Böses mit Bösem vergelten. Denn die anderen haben noch viel Böseres getan. Milliarden auf Milliarden aus Deinen Ersparnissen haben sie fortgeschafft nach Islamistan, Lichtensteinistan, LuxLeaks und in den Trump Tower, und Millionen Deinesgleichen haben für eine Handvoll Reiche bezahlt über viele Jahre. Darum will ich Dir alles zurückgeben: Die Förderung Deiner Pflegeversicherung will ich Dir um 0,5 Prozent erhöhen, das macht 200 Blatt Klopapier oder zwei Windeln mehr pro Woche. Unermessliche Kosten, aufs Ganze gesehen!

Im Übrigen aber muss ich Dich enttäuschen, Schmerzpatient und Rückenleidender, posttraumatische Mitbürgerin und Wählerin: Die systemrelevanten Apotheken aller Kurorte haben mitgeteilt, sie müssten Abermillionen von Apothekenhelferinnen entlassen, sollte nicht binnen Wochenfrist Rettung nahen, und Du koronarer Herzerkrankter siechtest hunderttausendfach dahin, sollte die Apothekenhelferin Deines Vertrauens Dir bei Überreichung Deines Betablockers nicht mitteilen, es sei nach neuester Forschung zu empfehlen, den BMI von 33 auf 28 zu senken. Am Ende würde gar geschehen, was niemals geschehen darf: Die Apothekerverbände Bremerhaven, Hanau und Bad Wildungen würden mir, ihrem König, die Stimme verweigern. Möllemann und Westerwelle würden auferstehen und „Freiheit!“ rufen, Herr Lindner würde Bundespräsident und Frauke P. seine Lebensgefährtin. Das aber wäre das Ende des freien Westens, wie wir ihn kennen.

Kraft des Gesetzgebers

Deshalb, und aus vielen anderen, hier gar nicht auszudenkenden, geschweige denn anzudeutenden Gründen liegen knapp zwei Monate nach dem Urteil des EuGH, aus dem sich eine sehr kleine Einschränkung des Umsatzes deutscher Apotheken ergeben könnte, erste Entwürfe eines Gesetzes zur Rettung der Apotheken vor. Mit der Pharmaindustrie, deren einst – vor Erfindung der Compliance – notorisch korruptivem Marketing sowie den zahllosen Besprechungen unzähliger Verbandsvertreter mit den Abgesandten des Königs im schönen Berlin hat das nicht das Geringste zu tun. Es geht um das deutsche Volk, also um Gesundheit und Arbeitsplätze.

Nicht dass wir uns missverstehen: Ich begrüße schnelle gesetzgeberische Verantwortung ausdrücklich! Gelegentlich hätten einem ja schon Zweifel am Impetus des Gesetzgebers kommen können: Nach 40 Jahren beharrlichen Wartens auf sozialtherapeutische Anstalten für besonders gefährliche und gefährdete Straftäter etwa hatte ich die Hoffnung schon fast fahren lassen. Nach 20 Jahren des Wartens auf die mehr als überfällige Reform des Strafprozessrechts in Richtung auf ein rationales, transparentes und nachvollziehbares Verfahren dachte ich, der Gesetzgeber habe seine Tätigkeit in diesem Bereich eingestellt. Ich war drauf und dran, zu glauben, er beschränke sich beim „Verbieten“ und Bestrafen auf wirkungslose Aktivitäten, die heute angekündigt, morgen verkündet und übermorgen vergessen sind.

Nun aber sehe ich: Wenn es um wirklich bedrängte Gruppen unserer Gesellschaft geht, etwa gewerbetreibende Apotheker, ist unser lieber Gesetzgeber binnen Monatsfrist bereit und in der Lage zu allem. Besonders liebenswert erscheint mir, wenn ich das vor dem Hintergrund unserer Sorgen einflechten darf, dass bei der Verteilung von Milliarden Euro aus den Solidarkassen auf eine kleine Gruppe von freiberuflichen Unternehmern zwischen aus Deutschland und aus Nichtdeutschland stammenden Apothekeninhabern nicht unterschieden wird, wenn eine deutsche Zulassung vorliegt. Hier kann jede(r) eine Apotheke kaufen, egal, woher er oder sie kommt!

Erschöpfung

Ich gebe zu: Mit Strafrecht hat die heutige Kolumne nicht unmittelbar zu tun. Aber doch mit der Gerechtigkeit, die wir uns erträumen. Denken Sie, wenn Sie mögen, an den vor Ihnen liegenden, unendlich besinnlichen Abenden darüber nach, ob und wie ein Zusammenhang zwischen Leitzins, Milchbauernsterben und Gerechtigkeit sich darstellen ließe.

Am Ende also Weihnachten: Wir Deutschen haben uns ja einmal mehr nicht viel zuschulden kommen lassen. Wir wussten wie immer nichts, wir argwöhnten wie immer alles, wir taten wie immer fast nichts, wir schämten uns deshalb auch nicht, für nichts. Wir haben 2016 keine Patienten in Krankenhäusern bombardiert, sondern allenfalls ein bisschen dabei geholfen, aber auch das nur aus gutem Willen und praktisch fahrlässig, wie Christine Lagarde oder Oberst Klein: Dass kann passieren, das rutscht in der Hektik halt mal so durch.

Wir haben, bedrängt von Sorgen und Ängsten, von Millionen Simulanten und von schrecklichen Bildern des Völkermords in Syrien und von der Ahnung all der Bilder vom Völkermord, die in der Tagesschau leider vergessen wurden, im diesjährigen Weihnachtsgeschäft einen Umsatzrekord hingelegt wie seit zwanzig Jahren nicht mehr: IWC-Uhren und Hermès-Tücher sind knapp geworden, deutsche Wälder entvölkert für Millionen Rehrücken, die polnischen Freunde kamen mit dem Abschlachten ihrer Gänse kaum nach.
So geht Optimismus in bedrängten Zeiten! So geht Rationalität, Zurückhaltung, Bescheidenheit, Dankbarkeit! Das mache uns mal einer nach! Genießen wir also, in bedrängter Zeit, das Maß an Frieden und Sicherheit, das wir uns als gebürtige deutsche Bethlehemer verdient haben.

Der Kolumnist wünscht Ihnen Feiertage, wie Sie sie brauchen. Kochen Sie (für sich und mit Glück andere) etwas Gutes! Schauen Sie, wenn’s geht, einen alten Errol Flynn, einen mittelalten Eastwood oder notfalls einen frühen Werner Herzog an, gern auch Mamie van Doren. Keinesfalls aber den Kleinen Lord! Bleiben Sie, liebe Patienten, auch wenn’s schwerfällt, ruhig und freundlich! Und gesund.

Arzneimittel: Ein Fest für die Gesundheit
Carsten OehlmannRechtsanwalt
2018-01-20T12:56:16+01:00Donnerstag, 22. Dezember 2016|Kategorien: Arzt- und Medizinrecht|

Share This Story, Choose Your Platform!

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner