Entsprechende Geltung der deutschen Vorschriften zum Versandhandel? („Applikationsarzneimittel“)
Nachfolgend ein Beitrag vom 29.11.2018 von Wesser, jurisPR-MedizinR 10/2018 Anm. 2
Leitsätze
1. In einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV ist es Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt festzustellen und dem Gerichtshof der Europäischen Union zur rechtlichen Beurteilung zu unterbreiten. Handelt es sich bei dem Ausgangsverfahren um einen Zivilprozess, trifft das vorlegende Gericht seine Feststellungen nach den Regeln der Zivilprozessordnung auf der Grundlage des Sachvortrags der Parteien.
2. Ärzte, die Applikationsarzneimittel beschaffen und in ihrer Praxis am Patienten anwenden, verstoßen nicht gegen das in § 43 Abs. 1 AMG geregelte Verbot, apothekenpflichtige Arzneimittel für den Endverbrauch außerhalb von Apotheken in den Verkehr zu bringen.
3. Einer Apotheke eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, die nach § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG Arzneimittel im Wege des Versandhandels an Endverbraucher in Deutschland liefern darf, ist es gestattet, Applikationsarzneimittel an den anwendenden Arzt zu liefern.
4. Das Verbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 ApoG erfasst Rechtsgeschäfte und Absprachen zwischen Apotheken und Ärzten, die Applikationsarzneimittel zum Gegenstand haben.
5. Dem Verbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 ApoG unterliegen nur Inhaber einer Erlaubnis nach dem Apothekengesetz, nicht dagegen Apotheken eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, die über eine Erlaubnis nach ihrem nationalen Recht verfügen.
A. Problemstellung
Es geht u.a. um die Frage, ob § 11 Abs. 1 ApoG, der es im Interesse ordnungsgemäßer Arzneimittelversorgung deutschen Apotheken verbietet, mit Ärzten Absprachen über die Zuweisung von Verschreibungen und die Zuführung von Patienten zu treffen, auf eine niederländische Apotheke Anwendung findet, die in Deutschland Ärzte dafür gewinnen will, dass sie bei ihr Applikationsarzneimittel für ihre Patienten bestellen.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Geklagt hatte der Verband Sozialer Wettbewerb. Beklagte war eine niederländische Versandapotheke, die einen in Deutschland niedergelassenen Frauenarzt mit einem als „Information für gynäkologische Praxen“ überschriebenen Werbeschreiben dafür hatte gewinnen wollen, die Kosten für seine „selbstzahlenden Patienten deutlich [zu] reduzieren“, indem er „für“ diese die Medikamente bei ihr beziehe. Die bestellten Produkte könnten bei ihr in den Niederlanden selbst, durch einen Logistikdienstleister oder durch einen sog. Apothekenboten abgeholt werden.
Das Landgericht hatte der Klage stattgegeben (LG Düsseldorf, Urt. v. 23.12.2015 – 14c O 121/14), das Berufungsgericht hatte sie abgewiesen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.06.2017 – I-20 U 38/16).
II. Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung der beanstandeten Werbeaussagen wegen Verstoßes gegen die §§ 3, 4 Nr. 11 UWG a.F. sowie die §§ 3 Abs. 1, 3a UWG, jeweils i.V.m. § 78 Abs. 1 AMG und den §§ 1, 3 AMPreisV, § 43 Abs. 1 AMG, § 73 AMG, § 11 ApoG oder § 31 BOÄ Nordrhein bestehe nicht.
1. Zwar sei davon auszugehen, dass die Beklagte gegen die Preisvorgaben des deutschen Arzneimittelrechts verstoße – da das von der Beklagten betriebene „Abholmodell“, bei welchem die Bezieher der von ihr vertriebenen Arzneimittel diese an ihrem Betriebssitz unweit der deutschen Grenze selbst oder durch einen Botendienst abzuholen haben, offenkundig dem Zweck diene, die deutschen Preisvorschriften für verschreibungspflichtige Arzneimittel zu umgehen, müsse sich die Beklagte so behandeln lassen, als biete sie die Abgabe in Deutschland an –, doch gelange die Regelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG im Verhältnis zu Beklagten nicht zur Anwendung, weil sie nicht im Einklang mit Art. 34 und 36 AEUV stehe.
2. Der vom Kläger geltend gemachte Verstoß gegen § 43 AMG liege nicht vor, weil es sich bei den von der Beklagten beworbenen Arzneimitteln um Applikationsarzneimittel handele, die von den Patientinnen nicht selbst, sondern durch den Arzt an den Patientinnen angewandt würden. Der Patient erlange keine tatsächliche Verfügungsgewalt über das Applikationsarzneimittel.
3. Die Beklagte verstoße auch nicht gegen das Verbringungsverbot des § 73 Abs. 1 AMG. Die Lieferung eines Applikationsarzneimittels an den anwendenden Arzt stelle sich als Lieferung an den Patienten als Endverbraucher dar, weil dieser ohne die Hilfe des Arztes das Arzneimittel nicht verwenden und damit nur in den Praxisräumen des Arztes ein Endverbrauch stattfinden könne.
4. Ein Verstoß gegen § 11 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 ApoG liege ebenfalls nicht vor. Die Regelung, die sicherstellen solle, dass sich Apotheker bei ihrem Kontakt zu anderen Gesundheitsberufen wie insbesondere zu Ärzten, die Einfluss auf ihr Entscheidungsverhalten haben, nicht von sachfremden und vor allem nicht von finanziellen Erwägungen leiten lassen, erfasse zwar auch Absprachen über Applikationsarzneimittel, doch gelte sie nicht für die Beklagte. Denn die Beklagte sei nicht Inhaberin einer Apothekenerlaubnis nach deutschem Apothekengesetz, was aber nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 ApoG erforderlich sei. Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift komme nicht in Betracht. Das Apothekengesetz lege in anderen Vorschriften ausdrücklich fest, wenn Erlaubnisinhaber nach dem Apothekengesetz und Apotheken, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union haben, gleich behandelt werden sollen, so in § 14 Abs. 4 und 5 Satz 2 Nr. 1 ApoG. Eine entsprechende Gleichstellung sei in § 11 ApoG nicht angeordnet. Zwar möge es nach dem Sinn und Zweck des in § 11 Abs. 1 ApoG geregelten Abspracheverbots zwischen Ärzten und Apothekern geboten sein, es auch auf in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässige Versandapotheken zu erstrecken, doch habe ein entsprechender gesetzgeberischer Wille, wenn er denn vorgelegen haben sollte, in der Vorschrift keinen Ausdruck gefunden.
5. Auch ein Verstoß gegen § 31 Abs. 2 BOÄ Nordrhein sei nicht gegeben.
Nach § 31 Abs. 2 BOÄ Nordrhein dürfen Ärztinnen und Ärzte ihren Patientinnen und Patienten nicht ohne hinreichenden Grund bestimmte Ärztinnen oder Ärzte, Apotheken, Personen oder Unternehmen, die Heil- und Hilfsmittel erbringen oder sonstige gesundheitliche Leistungen anbieten, empfehlen oder an diese verweisen. Diese Regelung dient der Wahrung der ärztlichen Unabhängigkeit bei der Zusammenarbeit mit Dritten. Der Patient soll sich darauf verlassen können, dass der Arzt die gesamte Behandlung einschließlich etwaiger Empfehlungen anderer Leistungserbringer allein an medizinischen Erwägungen im Interesse des Patienten ausrichtet.
Das beanstandete Werbeschreiben ziele jedoch nicht darauf ab, den Arzt dazu zu veranlassen, seine Patientinnen dazu zu bewegen, die beworbenen Arzneimittel bei der beklagten Apotheke zu erwerben. Vielmehr sollen die beworbenen Applikationsarzneimittel vom Arzt für seine Praxis zur Anwendung an den Patientinnen erworben werden. Es liege danach bereits keine Einwirkung des Arztes auf die Patientinnen mit der Absicht vor, deren Wahl unter Apotheken zu beeinflussen.
Außerdem könne die Beklagte, für die als Apothekenbetreiberin § 31 Abs. 2 BOÄ Nordrhein nicht gelte, nur als Teilnehmerin (Anstifterin oder Gehilfin) haften. Der Kläger habe im Hinblick auf die Anstiftung von Ärzten zu einem Verstoß gegen das Verweisungsverbot des § 31 Abs. 1 BOÄ Nordrhein nur Versuchshandlungen vorgetragen. Diese erfüllen nach der entsprechend anzuwendenden Bestimmung des § 30 Abs. 1 StGB nicht den Tatbestand einer Zuwiderhandlung i.S.v. § 4 Nr. 11 UWG a.F. oder § 3a UWG n.F. (BGH, Urt. v. 12.03.2015 – I ZR 84/14 Rn. 20 – GRUR 2015, 1025 „TV-Wartezimmer“).
C. Kontext der Entscheidung
Der gesetzliche Kontext sowie der Kontext zu vorangegangen Entscheidungen des I. Zivilsenats werfen Fragen auf:
I. Verbringt eine niederländische Apotheke Arzneimittel nach Deutschland, wenn sie ein „Abholmodell“ praktiziert?
Der BGH verneint einen Verstoß gegen das Verbringungsverbot des § 73 Abs. 1 Satz 1 AMG. Nach dieser Vorschrift dürfen zulassungspflichtige Arzneimittel nur unter bestimmten Voraussetzungen nach Deutschland verbracht werden. Verbringen ist jede Beförderung in den, durch den oder aus dem Geltungsbereich des Gesetzes (§ 4 Abs. 32 AMG). Eine Voraussetzung dafür, dass zulassungspflichtige Arzneimittel nach Deutschland verbracht werden dürfen, ist, dass sie hier zugelassen sind. Eine weitere, dass einer der in § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 1a oder 2 genannten Ausnahmetatbestände erfüllt ist. Die in § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a Fall 1 AMG geregelte Ausnahme betrifft den Tatbestand, dass im Falle des Versandes an den Endverbraucher das Arzneimittel von einer Apotheke eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, welche für den Versandhandel nach ihrem nationalen Recht, soweit es dem deutschen Apothekenrecht im Hinblick auf die Vorschriften zum Versandhandel entspricht, befugt ist, entsprechend den deutschen Vorschriften zum Versandhandel oder zum elektronischen Handel versandt wird.
Der Versand an den Endverbraucher verlangt den Einsatz eines Transport- oder Logistikunternehmens, wobei aber in den Vertrieb auch eine „Abholstation“ als Transportmittler eingeschaltet werden darf (BVerwG, Urt. v. 13.03.2008 – 3 C 27/07 Rn. 17 ff. – BVerwGE 131, 1). Erst in der Aushändigung der Arzneimittel durch den Transporteur an den Kunden liegt die Vollendung der Abgabe (OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.06.2018 – 13 LA 245/17 Rn. 8). Die Abgabe erfolgt mithin dort, wo das von der Apotheke beauftragte Versandunternehmen das Arzneimittel dem Kunden, dessen Besitzdiener oder dem vom Kunden benannten Besitzmittler (Nachbar, Arbeitgeber) ausliefert. Im Streitfall betreibt die Beklagte laut BGH ein „Abholmodell“, bei dem die Bezieher der von ihr vertriebenen Arzneimittel diese an ihrem Betriebssitz unweit der deutschen Grenze selbst oder durch einen Botendienst abzuholen haben. Bei „Abholmodellen“ liegt der Ort der Abgabe grundsätzlich dort, wo die vom Empfänger mit der Abholung beauftragte Person das Mittel abholt (BGH, Urt. v. 26.02.2014 – I ZR 77/09 Rn. 15). Anders als in dem der Entscheidung des BGH „Holland-Preise“ zugrunde liegenden Sachverhalt, bei dem maßgebend deutsche Apotheken in den Bestell- und Abgabevorgang eingeschaltet waren und die mit den Kunden vereinbarte Regelung, dass Erfüllungsort der Sitz der kooperierenden niederländischen Apotheke sein solle, ersichtlich der Umgehung des deutschen Arzneimittelpreisrechts diente (vgl. BGH, Urt. v. 26.02.2014 – I ZR 77/09 Rn. 15), ist im Streitfall keine deutsche Apotheke in den Bestell- und Abgabevorgang involviert. Daher dürfte der Ort der Abgabe dort liegen, wo der die Arzneimittel bestellenden Arzt sie abholt bzw. abholen lässt, also am Sitz der Beklagten in den Niederlanden. Davon scheint auch der BGH auszugehen, wenn er annimmt, die Beklagte müsse sich so behandeln lassen, als biete sie die Abgabe in Deutschland an. Erfolgt aber die Arzneimittelabgabe in den Niederlanden, ist es nicht die Beklagte, die die Arzneimittel i.S.v. § 4 Abs. 32 Satz 1 AMG nach Deutschland verbringt, sondern der jeweilige Kunde; denn er ist derjenige, der die bestellten Arzneimittel nach Deutschland befördert bzw. durch ein von ihm beauftragtes Unternehmen (Logistikdienstleister, DHL) nach Deutschland befördern lässt. Dies schließt die Annahme aus, die von der Beklagten beworbenen verschreibungspflichtigen Arzneimittel würden gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG in den Geltungsbereich des AMG verbracht.
Ob der von der Beklagten beworbene Gynäkologe gegen das Verbringungsverbot verstößt, wenn er die Arzneimittel nach Deutschland befördert (und damit eine Ordnungswidrigkeit begeht, vgl. § 97 Abs. 2 Nr. 8 AMG), hängt davon ab, ob es für ihn gilt. Von den in § 73 Abs. 2 AMG genannten Ausnahmen vom Geltungsbereich des Verbringungsverbotes kommt nur § 73 Abs. 2 Nr. 6 AMG in Betracht. Danach gilt das Verbringungsverbot nicht für Arzneimittel, die bei der Einreise nach Deutschland in einer dem üblichen persönlichen Bedarf entsprechenden Menge eingebracht werden. Dieser Ausnahmetatbestand basiert auf europarechtlichen Vorgaben (vgl. Kügel in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 2. Aufl. 2016, § 73 Rn. 44). Wie sich dem Erwägungsgrund 30 der Richtlinie 2001/83/EG entnehmen lässt, sind Arzneimittel für den persönlichen Bedarf solche Arzneimittel, die eine Person „für ihren eigenen Bedarf“ erworben hat. Für den Eigenbedarf einer verschreibenden Person bedarf die Verschreibung nicht der schriftlichen oder elektronischen Form (§ 4 Abs. 2 Satz 1 AMVV). Bei den von einem Gynäkologen für seine Patientinnen verschriebenen Applikationsarzneimitteln handelt es sich jedoch nicht um Arzneimittel für den Eigenbedarf des verschreibenden Arztes; denn die Arzneimittel sollen nicht am verschreibenden Arzt, sondern an seinen Patientinnen Anwendung finden.
Damit verstößt das beworbene „Abholmodell“ gegen das Gesetz: Die niederländische Apotheke, die die Arzneimittel gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG nach Deutschland verbringen dürfte, verbringt sie nicht nach Deutschland, und der Gynäkologe, der sie selbst oder durch einen Logistikdienstleister nach Deutschland verbringen soll, darf dies nicht, weil die fraglichen Arzneimittel nicht für seinen persönlichen Bedarf bestimmt sind.
II. Muss das Apothekengesetz die entsprechende Anwendung des § 11 Abs. 1 ApoG auf ausländische Apotheken anordnen?
Der BGH vermisst eine Vorschrift, welche die entsprechende Anwendung des § 11 Abs. 1 ApoG auf ausländische Apotheken anordnet, die gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG zulassungspflichtige Arzneimittel im Wege des Versandes nach Deutschland verbringen. In der Tat findet sich im Apothekengesetz eine solche Anordnung – anders, als bei der vom BGH zitierten Vorschrift des § 14 Abs. 4 und 5 Satz 2 Nr. 1 ApoG, welche die Berechtigung von (deutschen und ausländischen) Apotheken regelt, aufgrund eines Vertrages mit einem Krankenhausträger das Krankenhaus mit Arzneimitteln zu versorgen – nicht.
Dass das Apothekengesetz eine solche Anordnung nicht enthält, verwundert jedoch nicht; denn die geforderte Anordnung findet sich bereits im Arzneimittelgesetz: Das Arzneimittelgesetz selbst regelt die berufs- oder gewerbsmäßige Abgabe von Arzneimitteln für den Endverbrauch im Wege des Versandes und überlässt nur „das Nähere“ der Regelung durch das Apothekengesetz (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 1 AMG). Dementsprechend ist es das Arzneimittelgesetz, das in Bezug auf den Arzneimittelversand durch Apotheken aus EU- oder EWR-Mitgliedstaaten ausdrücklich bestimmt, dass das Arzneimittel „entsprechend den deutschen Vorschriften zum Versandhandel“ versandt wird (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG a.E.). Diese Anordnung ist zusätzlich zu der Anordnung getroffen, dass das für die ausländische Apotheke geltende nationale Versandrecht dem deutschen Apothekenrecht in Hinblick auf die Vorschriften zum Versandhandel entspricht, was grundsätzlich durch die vom Bundesministerium (für Gesundheit) gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AMG in regelmäßigen Abständen zu veröffentlichende Liste in die Gerichte bindender Weise festgestellt wird (vgl. BGH, Urt. v. 20.12.2007 – I ZR 205/04 Rn. 30 – A&R 2008, 86). § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG bestimmt mithin, dass die ausländische Apotheke unabhängig davon, ob ihre Befugnis zum Versandhandel aus dem Recht ihres Niederlassungsstaates (Fall 1) oder aus dem deutschen Apothekengesetz folgt (Fall 2), verpflichtet ist, den Versandhandel „entsprechend den deutschen Vorschriften zum Versandhandel“ zu betreiben. Auch mit Nennung ihres Herkunftslandes in der Länderliste ist sie somit nicht von der Einhaltung der deutschen Vorschriften zum Versandhandel befreit (Kieser in: Kieser/Wesser/Saalfrank, ApoG, Stand: Mai 2017, § 11a Rn. 21). Durch diese gesetzliche Doppelanordnung soll sichergestellt werden, dass eine durch ausländische Apotheken erfolgende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung Deutschlands nicht nur abstrakt, sondern auch im jeweiligen konkreten Fall dem durch deutsche Apotheken zu gewährleistenden Sicherheitsstandard gleichwertig ist (vgl. Wesser/Saalfrank, Arzneimittel Automat Hüffenhardt, 2017, S. 38 ff.).
Dementsprechend hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes – wie auch schon zuvor der BGH in seinem Vorlagebeschluss (BGH, Vorlagebeschl. v. 09.09.2010 – I ZR 72/08 Rn. 17 und 19 – A&R 2010, 275: „einseitige Kollisionsnorm, die die Anwendung des deutschen Arzneimittelpreisrechts … ausdrücklich anordnet“) – aus der durch § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG angeordneten entsprechenden Geltung der „deutschen Vorschriften zum Versandhandel“ abgeleitet, dass für ausländische Versandapotheken keine Ausnahmen gelten bezüglich der deutschen Vorschriften für den Apothekenabgabepreis verschreibungspflichtiger Arzneimittel (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschl. v. 22.08.2012 – GmS-OGB 1/10 Rn. 32 – BGHZ 194, 354). In der Call-Center-Entscheidung ist der BGH ebenfalls davon ausgegangen, dass EU-Apotheken in sachlicher Hinsicht „die deutschen Vorschriften zum Versandhandel“ einhalten müssen (BGH, Urt. v. 19.07.2012 – I ZR 40/11 Rn. 28).
Demnach trifft es zwar zu, dass der durch § 1 ApoG begründete Versorgungsauftrag nur die in Deutschland niedergelassenen öffentlichen Apotheken betrifft, also eine ausländische Apotheke nicht unter Berufung auf diesen Auftrag dazu gezwungen werden kann, die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung der Bevölkerung Deutschlands sicherzustellen, doch sobald sie an dieser Versorgung im Wege des Versandhandels teilnimmt, hat sie auch die deutschen Bestimmungen einzuhalten, die im Interesse der Sicherstellung ordnungsgemäßer Arzneimittelversorgung für den Versand apothekenpflichtiger Arzneimittel gelten. Welches die deutschen Vorschriften zum Versandhandel sind, ergibt sich aus § 11a Satz 1 Nr. 1 ApoG. Danach erfolgt der Versand aus einer öffentlichen Apotheke zusätzlich zu dem üblichen Apothekenbetrieb und nach den dafür geltenden Vorschriften, soweit für den Versandhandel keine gesonderten Vorschriften bestehen. Die ausländische Apotheke hat also beim Betrieb des Versandhandels sowohl die allgemein für die Abgabe von Arzneimitteln durch Apotheken geltenden Vorschriften zu beachten, wie die des Arzneimittelgesetzes (zum Beispiel die im Arzneimittelgesetz vorgesehenen Bestimmungen über die Verschreibungspflicht, vgl. BGH, Vorlagebeschl. v. 09.09.2010 – I ZR 72/08 Rn. 17), des Apothekengesetzes und der Apothekenbetriebsordnung sowie des Heilmittelwerbegesetzes, als auch die besonderen, die für die Abgabe von Arzneimitteln im Wege des Versandes gelten (Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht-CD, Version 2.15, § 73 AMG Anm. 19a; Kieser in: Kieser/Wesser/Saalfrank, ApoG, § 11a Rn. 21 ff.; Wesser/Saalfrank, Arzneimittel Automat Hüffenhardt, 2017, S. 41). Damit findet auch § 11 Abs. 1 ApoG entsprechend Anwendung.
III. Bestellt ein Arzt „für seine Praxis“ Arzneimittel, wenn er „für seine Patientinnen“ Arzneimittel ordert?
Der BGH begründet das Nichtvorliegen eines Verstoßes gegen das nach ärztlichem Berufsrecht geltende Zuweisungsverbot u.a. damit, dass das beanstandete Werbeschreiben nicht darauf abziele, den Arzt dazu zu veranlassen, seine Patientinnen dazu zu bewegen, die beworbenen Arzneimittel bei der beklagten Apotheke zu erwerben. Vielmehr sollen die beworbenen Applikationsarzneimittel vom Arzt „für seine Praxis“ zur Anwendung an den Patientinnen erworben werden. Es liege danach bereits keine Einwirkung des Arztes auf die Patientinnen mit der Absicht vor, deren Wahl unter Apotheken zu beeinflussen. Einige Absätze zuvor führt der BGH allerdings aus, dass sich die Lieferung eines Applikationsarzneimittels an den anwendenden Arzt als Lieferung „an den Patienten als Endverbraucher“ darstelle.
Die auf § 48 AMG beruhenden Arzneimittelverschreibungsverordnung unterscheidet zwischen ärztlichen Verschreibungen, auf denen der Name und das Geburtsdatum der Person angegeben sein muss, für die das Arzneimittel bestimmt ist (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 3 AMVV) und ärztlichen Verschreibungen, die „für den Praxisbedarf“ der verschreibenden Person bestimmt sind. Bei letzteren genügt an Stelle der Angabe von Name und Geburtsdatum ein entsprechender Vermerk (vgl. § 2 Abs. 2 AMVV), wie etwa die Angabe „pro praxi“.
Patientenindividuelle und Praxisbedarfsverschreibung unterscheiden sich dadurch, dass bei ersterer die Person, an welcher das Arzneimittel zur Anwendung gelangen soll, zum Zeitpunkt der Verschreibung bereits bekannt und daher vom Arzt auf der Verschreibung eindeutig (mit Namen und Geburtsdatum) zu bezeichnen ist. Ob es sich bei dem verschriebenen Arzneimittel um ein Applikationsarzneimittel handelt oder um eines, das der Patient selbst an sich anwendet, spielt keine Rolle. Entscheidend ist allein, dass der Arzt die Verschreibung für einen individuell bestimmten Patienten ausstellt. Zum Praxisbedarf zählt ein Arzneimittel dagegen dann, wenn zum Zeitpunkt seiner Verschreibung der Patient, an welchem es zur Anwendung gelangen soll, noch nicht bekannt ist oder wenn es seiner Art nach an mehr als einem Patienten zur Anwendung gelangen soll (wie z.B. ein Desinfektionsspray). Zum Praxisbedarf zählen insbesondere solche Arzneimittel, die in der Arztpraxis zur Behandlung von Notfällen oder für eine Sofortmedikation vorhanden sein müssen. Die Person, für die ein verschreibungspflichtiges Praxisbedarfsarzneimittel zum Zeitpunkt seiner Verschreibung bestimmt ist, ist daher nicht ein bestimmter Patient, sondern der die Praxis betreibende Arzt.
Ein Gynäkologe, der auf den Namen seiner Patientinnen ausgestellte Verschreibungen in einer von ihm ausgewählten Apotheke einreicht, bestellt daher auch dann, wenn es sich bei den verschriebenen Arzneimitteln um Applikationsarzneimittel handelt, keine Arzneimittel für seine Praxis, sondern nimmt eine Zuweisung von Verschreibungen vor. Demensprechend hat der I. Zivilsenat in seiner alten Besetzung angenommen, dass ein Apotheker, der eine Arztpraxis mit Applikationsarzneimitteln zur Behandlung von Hepatitis-C-Patienten beliefert, deren Verschreibungen ihm zuvor von der Arztpraxis zugeleitet worden sind, bei der Lieferung der Medikamente auf der Grundlage einer Absprache tätig wird, die die Zuweisung von (Kunden mit) Verschreibungen durch einen Arzt an eine Apotheke i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 1 Fall 3 ApoG zum Gegenstand hat (BGH, Urt. v. 18.06.2015 – I ZR 26/14 Rn. 20). Es verwundert, dass ein und dasselbe Verhalten (Zuleitung patientenindividueller Verschreibungen über Applikationsarzneimittel von einem Arzt an eine Apotheke) zwar eine von § 11 Abs. 1 ApoG erfasste Zuweisung von Verschreibungen darstellt, nicht aber eine von § 31 Abs. 2 BOÄ Nordrhein erfasste Verweisung von Patienten an eine bestimmte Apotheke.
D. Auswirkungen für die Praxis
Leider zementiert die Entscheidung die zu beobachtende Praxis, dass deutsche Apotheken mit Argusaugen von Wettbewerbsverbänden und Aufsichtsbehörden verfolgt werden, ausländische dagegen in Deutschland im Grunde tun und lassen können, was sie wollen (zum Überwachungsdefizit vgl. Wesser, A&R 2017, 195), es sei denn, Inhaber deutscher Apotheken werden selbst wettbewerbsrechtlich aktiv (wie im Fall Hüffenhardt, vgl. z.B. LG Mosbach, Urt. v. 15.02.2018 – 4 O 39/17 KfH, 4 O 37/17 KfH, 3 O 9/17, 3 O 10/17; 3 O 11/17). So scheint sich zum Beispiel niemand daran zu stören, dass niederländische Versandapotheken verschreibungspflichtige Arzneimitteln mit „Rabatten“ von bis zu 30 Euro bewerben, obwohl das Heilmittelwerbegesetz auch für nichtpreisgebundene Arzneimittel Zuwendungen grundsätzlich nur von geringem Wert zulässt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz Nr. 1 HWG). Zwar sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a HWG Barrabatte unbeschränkt zulässig, doch sind damit nur solche Rabatte gemeint, die sich als Nachlass auf den Normalpreis des beworbenen Heilmittels darstellen (Fritzsche in: Spickhoff, Medizinrecht, 2. Auflage 2014, § 7 HWG Rn. 22). Bei den von niederländischen Versandapotheken ausgelobten „Rabatten“ ist dies jedoch nicht der Fall; denn dann würden von dem Rabatt die Personen profitieren, die die Kosten des Arzneimittels zu tragen haben, also entweder die gesetzliche Krankenversicherung der Person, der das Arzneimittel verschrieben ist, ihre Beihilfestelle und/oder ihre private Krankenversicherung: Der Kostenträger hätte dann nur den rabattierten Preis dieses Arzneimittels zu zahlen bzw. dem Beihilfeberechtigten/Versicherten nur diesen rabattierten Preis zu erstatten. Eine Entlastung der Kostenträger ist aber gar nicht Ziel der Werbung mit den „Rabatten“. Ziel ist vielmehr, die Verbraucherströme in Richtung der den „Rabatt“ gewährenden Versandapotheke zu lenken. Dieses Ziel ließe sich mit dem Versprechen und der Gewährung eines Rabatts, von dem allein die Kostenträger profitieren, nicht erreichen. Bei den „Rabatten“ handelt es sich daher um Zuwendungen, die zwar als Barrabatt getarnt sind, in Wirklichkeit aber die Zuwendung anderer Waren in Gestalt von Warengutscheinen darstellen: Von den Waren, die der Kunde auf eigene Kosten erwerben muss (nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel, sonstige apothekenübliche Waren wie z.B. Kosmetika), darf er sich Waren im Wert des ihm gewährten „Rabatts“ aussuchen. Auch die Zuzahlungserstattung stellt keine Gewährung eines Barrabattes dar, weil die Zuzahlung kein Bestandteil des Arzneimittelpreises ist, sondern eine eigenständige, durch das Sozialrecht begründete (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 SGB V) Zahlungspflicht des Versicherten gegenüber seiner gesetzlichen Krankenversicherung.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
In der Entscheidung führt der BGH erneut und auch recht ausführlich aus (vgl. auch BGH, Urt. v. 24.11.2016 – I ZR 163/15 Rn. 48 – GRUR 2017, 635 „Freunde werben Freunde“), dass und warum die Beurteilung des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens „Deutsche Parkinson Vereinigung/Zentrale“ maßgeblich auf ungenügenden Feststellungen des vorlegenden Gerichts beruhte. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass in anderen Verfahren, in denen die Frage der Vereinbarkeit des deutschen Arzneimittelpreisrechts mit dem europäischen Primärrecht in Streit stehe, diese Feststellungen nachgeholt werden können. Im Streitfall allerdings sei das Berufungsgericht nicht gehalten gewesen, dieser Frage nachzugehen, weil der Kläger weder geltend gemacht habe, das deutsche Arzneimittelpreisrecht diene dazu, die gebotene flächendeckende und gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherzustellen und das finanzielle Gleichgewicht des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung abzusichern, noch er hierzu Vortrag gehalten habe und er auch nicht – anders als die klagende Partei in dem Verfahren, das der Senatsentscheidung „Freunde werben Freunde“ zugrunde lag – die Entscheidung des EuGH in Frage gestellt habe.
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