Nachfolgend ein Beitrag vom 28.6.2018 von Hüwe, jurisPR-MedizinR 5/2018 Anm. 2
Orientierungssätze
1. Die Beweislast für die Feststellung eines Behandlungsfehlers liegt bei einer physiotherapeutischen Gangschule bei dem Patienten.
2. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu einer Beweislastumkehr wegen eines durch die Behandlerseite voll beherrschbaren Risikos sind in einem derartigen Fall gerade nicht anwendbar. Bei krankengymnastischen Übungen besteht die Behandlung im Gegensatz zu pflegerischen Maßnahmen oder beim Transport des Patienten typischerweise gerade in der Anweisung und Anleitung zu aktiver Bewegung, bei welcher Geschicklichkeit, Mitarbeit und Konzentration des Patienten gefordert sind, so dass der Ablauf von den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus geprägt ist und von dem Therapeuten gerade nicht voll beherrscht werden kann (Anschluss OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.05.2005 – I-8 U 82/04 – VersR 2006, 977).
A. Problemstellung
Das sog. voll beherrschbare Risiko ist ein von der Rechtsprechung entwickelter und inzwischen auch in § 630h Abs. 1 BGB normierter Grundsatz, der zur Umkehr der Beweislast führen kann. Danach hat der Arzt den Entlastungsbeweis zu führen, wenn sich eine Verletzung der Gesundheit in einem Bereich ereignet hat, in dem die Gefahren vom Arzt objektiv beherrscht oder ausgeschlossen werden können und müssen. In diesem Fall muss der Arzt zu seiner Entlastung nachweisen, dass alle organisatorischen und technischen Maßnahmen getroffen wurden, um das Eintreten des Risikos zu verhindern.
Es stellt sich dabei immer wieder im Einzelfall die Frage, ob der Anwendungsbereich überhaupt eröffnet ist, so auch im vorliegenden Fall.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die in den 1940er Jahren geborene Klägerin ist aufgrund eines frühkindlichen Schädelhirntraumas körperlich und geistig behindert und lebt in einem Pflegeheim. Sie hat u.a. epileptische Anfälle, eine Spitzfußstellung, welche zu einem „Watschelgang“ führt, eine ausgeprägte Skoliose, eine verdrehte Wirbelsäule mit Schulterhochstand und ist stark verlangsamt.
Sie wurde von der beklagten Physiotherapeutin regelmäßig seit 2013 behandelt. Die Behandlungen fanden zweimal in der Woche statt, wozu auch eine sog. Gangschule gehörte. Die Klägerin war in der Lage, sich alleine, insbesondere beim Stehen, abzustützen und mit dem Rollator um Gegenstände herum zu gehen, sowie sich um die eigene Achse zu drehen.
Im Jahre 2014 kam es während der Gangschule zu einem Sturz der Klägerin. Die Beklagte ließ die Klägerin an ihrem Rollator, wie üblich, den Gang in Richtung Speisesaal an der Seite des Handlaufs entlanglaufen. Die Klägerin trug Kompressionsstrümpfe sowie maßgefertigtes orthopädisches Schuhwerk. Die Beklagte befand sich in unmittelbarer Nähe der Klägerin mit einem Rollstuhl. Bei ihrem Sturz zog die Klägerin sich eine bimalleoläre Sprunggelenksfraktur zu. Vorkommnisse in der Vergangenheit, bei denen die Klägerin während der Gangschule mit der Beklagten gestürzt war, gab es nicht.
Die Klägerin hat behauptet, die Beklagte habe ihr nach einer kurzen Wegstrecke unvermittelt die Anweisung gegeben, nach links zu gehen. Dies habe sie so irritiert, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verloren habe und gestürzt sei. Sie hat weiter behauptet, die Beklagte sei bei der Gangschule behandlungsfehlerhaft nicht direkt neben ihr gelaufen, sondern den Rollstuhl schiebend hinter ihr her gegangen. Wegen des Sturzes sei sie stationär behandelt worden, ferner habe sich ihr Pflegebedarf drastisch erhöht, und sie sei ein Schwerstpflegefall geworden.
Die Klägerin fordert von der Beklagten wegen behaupteter Behandlungsfehler Ersatz immateriellen Schadens sowie die Feststellung der Pflicht zum Ersatz gegenwärtiger und künftiger materieller und immaterieller Schäden. Sie vertritt u.a. die Rechtsansicht, dass das Landgericht zu ihren Gunsten nicht die Grundsätze des vollbeherrschbaren Gefahrenbereichs angewandt habe.
Das OLG Frankfurt hat das die Klage abweisende Urteil der Vorinstanz mit folgender Begründung bestätigt:
1. Die Beweislast für die Feststellung eines Behandlungsfehlers liegt bei der Klägerin. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu einer Beweislastumkehr wegen eines durch die Behandlerseite voll beherrschbaren Risikos sind hier nicht anwendbar.
a) Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt oder Therapeuten nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würden (BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – VI ZR 634/15).
b) Bei krankengymnastischen Übungen besteht die Behandlung im Gegensatz zu pflegerischen Maßnahmen oder beim Transport des Patienten typischerweise gerade in der Anweisung und Anleitung zu aktiver Bewegung, bei welcher Geschicklichkeit, Mitarbeit und Konzentration des Patienten gefordert sind, so dass der Ablauf von den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus geprägt ist und von der Therapeutin nicht voll beherrscht werden kann (OLG München, Urt. v. 17.09.1998 – 1 U 3254/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.05.2005 – 8 U 82/04; OLG Koblenz, Beschl. v. 02.01.2013 – 5 U 693/12; OLG Köln, Urt. v. 08.02.2017 – 5 U 17/16).
Auch der Sachverständige hat mehrfach betont, dass der Sinn einer Gangschule, wie sie hier durchgeführt wurde, darin besteht, dass die Patientin das eigenständige Laufen übt. Das hat zwingend zur Folge, dass die Sturzgefahr von Seiten der Therapeutin nicht vollständig ausgeschlossen werden kann.
2. Die Anhörung des Sachverständigen hat ergeben, dass auch auf der Grundlage des streitigen Klägervortrags keine Haftung der Beklagten in Betracht kommt.
a) Eine etwaige, auch plötzliche Aufforderung der Beklagten an die Klägerin, nach links zu gehen, stellt keinen Behandlungsfehler dar. Eine solche Maßnahme ist ein zulässiger und sogar üblicher Teil einer Gangschule, um den Patienten für solche im Alltag möglichen Situationen zu schulen.
b) Die Beklagte kann darüber hinaus auch dann nicht für den Sturz und seine Folgen in Anspruch genommen werden, wenn man davon ausgeht, dass sie, wie die Klägerin vorträgt, den Rollstuhl hinter der vor ihr gehenden Klägerin hergeschoben hat. Zwar hat der Sachverständige ein solches Vorgehen für behandlungsfehlerhaft gehalten, weil die Therapeutin in diesem Fall keine Möglichkeit gehabt hätte kurzfristig einzugreifen. Ein solcher – unterstellter – Behandlungsfehler vermöge im konkreten Fall aber keine Haftung der Beklagten zu begründen.
aa) Der Behandlungsfehler wäre nicht als grob im Sinne der Rechtsprechung einzustufen und würde deshalb keine Beweislastumkehr bewirken.
Ein Behandlungsfehler ist nur dann als grob zu bewerten, wenn der Arzt oder Therapeut eindeutig gegen bewährte Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt oder Therapeuten schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH, Urt. v. 27.04.2004 – VI ZR 34/03; BGH, Urt. v. 27.03.2007 – VI ZR 55/05 – BGHZ 172, 1, und BGH, Urt. v. 25.10.2011 – VI ZR 139/10).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Das ergibt sich aus den Ausführungen des Sachverständigen. Er hat dargelegt, dass die wesentlichen Sicherungsmaßnahmen erfüllt waren: das Tragen von Kompressionsstrümpfen sowie orthopädischem Schuhwerk und vor allem die Nutzung eines Rollators als Stütze. Ein Rollator ist immer eine ausreichende Sturzprophylaxe, weil die Hände an den Griffen des Rollators eine Bewegungsachse bilden, die aus den Schultergelenken über das Hüftgelenk bis in die Sprunggelenke wirkt.
Wenn sich eine Therapeutin unter solchen Umständen dafür entscheidet, nicht neben ihrer Patientin herzugehen, sondern den Rollstuhl in unmittelbarer Nähe hinter dieser herzuschieben, handelt es sich nur um eine eher geringfügige Nachlässigkeit, die im Therapiealltag geschehen kann. Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch unterstützt, dass die Gangschule in dieser Form von beiden Beteiligten bereits über viele Monate gemeinsam ohne Probleme bewältigt werden konnte, so dass von Seiten der Beklagten nicht mehr in besonderem Maße mit einem Sturzereignis gerechnet werden musste.
bb) Der insoweit beweisbelasteten Klägerin ist es nicht gelungen, die Ursächlichkeit des – unterstellten – Behandlungsfehlers der Beklagten für den Sturz und seine Folgen darzulegen. Sie hat neben der Pflichtverletzung selbst auch den Kausalzusammenhang zwischen dieser und dem Primärschaden darzulegen und zu beweisen (BGH, Urt. v. 24.06.1986 – VI ZR 21/85; BGH, Urt. v. 21.07.1998 – VI ZR 15/98, und BGH, Urt. v. 22.05.2012 – VI ZR 157/11).
Diesen Anforderungen genügt der Klägervortrag nicht. Die Klägerin trägt keinen Sachverhalt vor, aus dem sich ergibt, dass der Sturz durch eine fehlerfreie Positionierung der Beklagten direkt neben der Klägerin verhindert worden wäre. Sie hätte dem konkreten Sachvortrag der Beklagten, dass der Unfall durch ein plötzliches Einknicken ohne erkennbaren Anlass ausgelöst worden sei, eine konkrete eigene Unfallhergangsdarstellung entgegensetzen und diese unter Beweis stellen müssen. Der Sachverständige hat die Darstellung der Beklagtenseite nämlich für plausibel gehalten und der Beklagten attestiert, dass sie unter diesen Voraussetzungen den Sturz nicht hätte vermeiden können. Es kommt damit ein Sachverhalt in Betracht, bei dem eine Haftung ausscheidet. In dieser Situation ist die darlegungsbelastete Partei gehalten, selbst konkrete Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die behauptete Verantwortlichkeit der Gegenseite für den Sturz ergibt. Dass ihr dies, wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, aufgrund der konkreten Umstände des Falles unter Umständen nicht möglich ist, kann nicht zulasten der Beklagten gehen.
Im Ergebnis ist deshalb davon auszugehen, dass es sich bei dem Sturz um ein unglückliches, für die Klägerin womöglich sogar tragisches Ereignis gehandelt hat, welches aber unabhängig vom Zutun der Beklagten eingetreten ist.
C. Kontext der Entscheidung
Der Begriff des voll beherrschbaren Risikos wird auf Seiten der Anspruchsteller oft deutlich überstrapaziert. Das ist einerseits verständlich vor dem Hintergrund der gewünschten Beweislastumkehr, die die Erfolgsaussichten der Anspruchsdurchsetzung deutlich erhöht. Davor liegt allerdings andererseits die von der klagenden Partei zu überwindende Hürde, konkret darzulegen und auch zu beweisen, dass der Anwendungsbereich des voll beherrschbaren Risikos überhaupt eröffnet ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.02.2010 – I-24 U 141/09; OLG Hamm, Urt. v. 20.05.2011 – I-26 U 23/10; OLG Hamm, Urt. v. 27.01.2014 – I-17 U 35/13).
Das ist der Klägerin im vorliegenden Fall nicht gelungen, weshalb die Klage folgerichtig abgewiesen wurde. Dies wird mitunter als ungerecht empfunden und eine generelle Beweislastumkehr gefordert, da die Klägerin kaum Nachweismöglichkeiten habe, die konkreten Umstände des Sturzes im Klagefalle zu beweisen. Allerdings wird von den Verfechtern dieser Rechtsansicht geflissentlich übersehen, dass dies beispielsweise bei einem Autounfall auch nicht anders ist, mithin also ein allgemeines zivilprozessuales Risiko darstellt, mit dem jede klagende Partei sich auseinandersetzen muss, und das demzufolge kein taugliches Argument für eine generelle Beweislastumkehr sein kann. Exemplarisch durch alle Instanzen gefochten wurde dies von einem gesetzlichen Krankenversicherer, der in letzter Instanz vor dem BGH mit der Forderung nach einer generellen Beweislastumkehr im Falle von Sturzereignissen bei Heimunterbringung scheiterte (BGH, Urt. v. 28.04.2005 – III ZR 399/04 – BGHZ 163, 53).
Bei Hygienemängeln wird auch gerne mit dem Begriff des voll beherrschbaren Risikos operiert. Die Rechtsprechung folgt dieser Ansicht bislang nicht, sieht aber durchaus sekundäre Darlegungslasten auf Behandlerseite mit der Begründung, dass die Darstellung außerhalb des von der primär darlegungsbelasteten Partei vorzutragenden Geschehensablaufs steht, ihr deshalb eine nähere Substantiierung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während der Prozessgegner alle wesentlichen Tatsachen kennt oder unschwer in Erfahrung bringen kann und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – VI ZR 634/15; OLG Koblenz, Beschl. v. 07.09.2016 – 5 U 498/16).
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Gericht hat nicht weiter problematisiert, ob die für das Arzthaftungsrecht entwickelte Rechtsfigur des voll beherrschbaren Risikos überhaupt auf eine physiotherapeutische Behandlung übertragbar ist. Das scheint für die Rechtsprechung so selbstverständlich zu sein, dass dies kaum problematisiert wird (ebenso für die Anwendung bei physiotherapeutischer Behandlung: OLG Koblenz, Beschl. v. 13.08.2013 – 5 U 628/13; OLG Köln, Urt. v. 08.02.2017 – 5 U 17/16).
Auch im Bereich der Heimhaftung, dort insbesondere bei Stürzen von Patienten, wird regelmäßig die Rechtsfigur des voll beherrschbaren Bereichs geprüft unter Verweis darauf, dass Pflege- oder Betreuungsmaßnahmen in den voll beherrschbaren Gefahrenbereich des Pflegeheimträgers fallen, wenn eine konkrete Gefahrensituation vorliegt, die für das Heim gegenüber der Bewohnerin gesteigerte Obhutspflichten auslöst und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut ist (vgl. BGH, Urt. v. 18.12.1990 – VI ZR 169/90 – NJW 1991, 1540; BGH, Urt. v. 28.04.2005 – III ZR 399/04 – BGHZ 163, 53; OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.01.2012 – I-24 U 78/11; OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.11.2008 – I-24 U 165/07 – PflR 2009, 568; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.02.2010 – I-24 U 141/09 – NJW-RR 2010, 1533; OLG München, Urt. v. 12.11.2008 – 20 U 3322/08 – PflR 2009, 142; OLG München, Urt. v. 28.02.2006 – 20 U 4636/05; OLG Hamm, Urt. v. 18.10.2005 – 24 U 13/05 – OLGR Hamm 2006, 569).
Es haben sich seit der vielbeachteten und wohl grundlegenden Entscheidung des BGH vom 18.12.1990 (VI ZR 169/90) inzwischen verschiedene Fallgruppen herausgebildet, in denen die Anwendung des voll beherrschbaren Bereichs in Betracht kommt. Dazu zählen u.a. die Mangelfreiheit und Funktionalität von medizinischem technischem Gerät, Lagerungsschäden auf dem Operationstisch, das Zurückbleiben von Fremdkörpern im Körper im Rahmen einer Operation (vgl. im Einzelnen: Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., Rn. V 320 ff.).
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