Nachfolgend ein Beitrag vom 31.1.2018 von Kohte, jurisPR-ArbR 5/2018 Anm. 1
Orientierungssatz zur Anmerkung
Wenn ein Arzt vorsätzlich die gefährliche Arbeit der Blutentnahme bei einem Hepatitis C-Patienten durch eine Auszubildende am ersten Tag der Arbeit ohne Einweisung und mit ungeeigneten Hilfsmitteln verrichten lässt, haftet er für den dadurch entstehenden Gesundheitsschaden. Der Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII ist nicht anwendbar.
A. Problemstellung
Fälle, in denen der Haftungsausschluss des Arbeitgebers bei Arbeitsunfällen nach § 104 SGB VII nicht zur Anwendung kommt, weil bei dem Arbeitgeber vorsätzliches Handeln nachgewiesen wird, sind selten. Gerade deshalb ist der vorliegende Fall von großem Interesse. Zugleich gibt er einen Einblick in aktuelle Strukturen der BioStoffV und zeigt, warum es wichtig war, dass durch die RL 2010/32/EU sowie durch § 11 BioStoffV im Jahr 2013 konkrete Neuregelungen zur Vermeidung von Nadelstichverletzungen verlangt und realisiert worden sind.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin, die bereits zwei Jahre als Auszubildende in einer anderen Arztpraxis gearbeitet hatte, wechselte im Juni 2011 zum Beklagten, der als Arzt mit zwei Helferinnen tätig war. Bereits am ersten Arbeitstag kam es zu einem schweren Unfall. Die Klägerin war angewiesen worden, bei einem Patienten, der an Hepatitis C erkrankt war, Blut abzunehmen. In der Praxis des Beklagten wurde dazu ein System verwandt, das dem damaligen Stand der Technik nicht entsprach. Außerdem war sie zu keinem Zeitpunkt eingewiesen worden. In der Praxis, in der sie vorher beschäftigt worden war, hatte sie mit korrekten Materialien und Kanülen gearbeitet. Darauf hatte sie den Beklagten hingewiesen, der jedoch die Arbeit mit den – nicht mehr dem Stand der Technik angemessenen – traditionellen Kanülen fortgeführt hat. Die Klägerin infizierte sich mit Hepatitis C und leidet seitdem an verschiedenen schweren Krankheiten, unter anderem rheumatischer Arthritis. Diese Krankheiten wurden als Berufskrankheit anerkannt. Mit ihrer Klage verlangt sie vom Beklagten Schmerzensgeld.
Nachdem sie am ArbG Coburg unterlegen war, wurde ihrem Klageantrag in der Berufungsinstanz vor dem LArbG Nürnberg entsprochen.
Das Landesarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass in der Praxis des Beklagten nicht die vorgeschrieben Sicherheitskanülen verwendet wurden und sah darin eine Pflichtverletzung, die letztlich auch zu dem Gesundheitsschaden geführt hatte. Schließlich bejahte das Landesarbeitsgericht auch die doppelte Zielrichtung des Vorsatzes, der sich sowohl auf die Verletzungshandlung als auch auf den Verletzungserfolg zu beziehen hat (Koch in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 17. Aufl. 2017, § 61 Rn. 67), so dass der Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII nicht zum Tragen kam. Die vorsätzliche Pflichtverletzung war unstreitig. Der Beklagte hatte sich bewusst dafür entschieden, die traditionellen und nicht die vorgeschriebenen Sicherheitskanülen zu verwenden. Den bedingten Vorsatz für die Schädigung sah das Landesarbeitsgericht darin, dass ihm die Hepatitis C-Erkrankung des Patienten bekannt und dem Beklagten als Arzt daher auch das damit verbundene Gesundheitsrisiko bewusst war. Dem Beklagten war auch bewusst, dass für die Klägerin als Auszubildende am ersten Arbeitstag eine persönliche Hilfe und konkrete Einweisung erforderlich war, die jedoch nicht zur Verfügung gestellt wurde. Damit war es folgerichtig, der Berufung stattzugeben.
C. Kontext der Entscheidung
Der Sachverhalt zeigt deutlich die Gefahren, die sich aus Nadelstichverletzungen ergeben können. Seit einer Reihe von Jahren sind daher die Anstrengungen intensiviert worden, solche Verletzungen nach Möglichkeit auszuschließen. Der Ausschuss für biologische Arbeitsstoffe, der nach § 19 BioStoffV entsprechende Regeln und Erkenntnisse zu ermitteln und zu dokumentieren hat, hat daher schon seit mehr als zehn Jahren entsprechende Vorsorgemaßnahmen, die sich auch auf die Kanülen beziehen, ermittelt und als erforderlich qualifiziert. Maßgeblich ist die 2003 erstmals beschlossene und 2006 präzisierte und publizierte TRBA 250 „Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege“ (Bochmann/Dreller/Nienhaus/Nold, BG 2006, 398).
Diese TRBA (Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe) sind allerdings keine Rechtsnormen (vgl. zu den Parallelen ASR jetzt BAG, Beschl. v. 18.07.2017 – 1 ABR 59/15 Rn. 25), so dass die vom Landesarbeitsgericht genannte Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. TRBA 250 verfehlt ist. Jedoch ergab sich bereits 2011 aus § 4 Nr. 3 ArbSchG i.V.m. § 10 Abs. 1 BioStoffV (Kohte in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, § 295 Rn. 79), dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Schutzmaßnahmen zu treffen, die dem Stand der Technik entsprechen. Diesen Stand hatten die TRBA 250 dokumentiert. Offenkundig hatte der Beklagte in dem Verfahren zu keinem Zeitpunkt bestritten, dass sein „traditionelles“ Verfahren nicht mehr dem Stand der Technik entsprach, so dass die Pflichtverletzung eindeutig war. Inzwischen ist die Pflichtenstellung des Arbeitgebers in § 8 Abs.5 Satz 1 i.V.m. § 11 BioStoffV noch deutlicher normiert (Pieper, Arbeitsschutzrecht, 6. Aufl. 2017, § 8 BioStoffV Rn. 13 f.).
Als zweite Pflichtverletzung ist getrennt davon die mangelnde Unterweisung nach § 14 Abs. 2 BioStoffV (im Jahr 2011 § 12 Abs. 2 BioStoffV) zu nennen, die in jedem Fall vor Aufnahme der Beschäftigung zu erfolgen hat. Der Beklagte hatte auf eine kurze mündliche Einweisung durch eine Helferin verwiesen, dies ist schwerlich als substantiierter Vortrag einzustufen, dass hier eine Unterweisung auf der Grundlage einer Gefährdungsbeurteilung erfolgt ist. Es dürfte nach dem Sachverhalt auch unstreitig sein, dass die Informationsvorschrift des § 81 Abs. 3 BetrVG ebenso verletzt worden ist. Auch wenn dem Beklagten möglicherweise die konkrete Norm des § 14 Abs. 2 BioStoffV nicht bekannt war, so ist doch im Einsatz einer Auszubildenden mit einer aus medizinischer Sicht gefährlichen Tätigkeit ohne vorherige korrekte Unterweisung ebenfalls ein vorsätzlicher Pflichtverstoß zu sehen, der auch kausal für den Gesundheitsschaden war.
Vor wenigen Jahren hatte der Achte Senat des BAG eine Schadensersatzpflicht nach vorsätzlicher Pflichtverletzung bei grob regelwidrigem Umgang mit Asbest festgestellt (dazu BAG, Urt. v. 20.06.2013 – 8 AZR 471/12 m. Anm. Kohte, jurisPR-ArbR 44/2013 Anm. 3). In diesem Verfahren hatte das BAG deutlich herausgearbeitet, dass für die Anwendung von § 104 SGB VII ein doppelter Vorsatz festzustellen ist, der sich auf die Pflichtverletzung sowie den Eintritt des Schadens beziehen muss. Ein solcher ist nach dieser Entscheidung regelmäßig einzelfallbezogen festzustellen und in der Revisionsinstanz nur begrenzt überprüfbar.
D. Auswirkungen für die Praxis
Noch vor wenigen Jahren waren regelmäßig mehr als 500.000 Nadelstichverletzungen zu konstatieren. Die Entwicklung der TRBA 250 in den letzten zehn Jahren dokumentiert deutlich die arbeitswissenschaftlichen Fortschritte und die damit einhergehenden wachsenden Anforderungen an Arbeitgeber. Auf dieser Basis ist 2009 im sektoralen sozialen Dialog eine entsprechende Vereinbarung über den Arbeitsschutz bei Nadelstichverletzungen getroffen worden, die von Rat und Parlament zügig umgesetzt wurde durch die Nadelstich-RL 2010/32/EU. Im Jahr 2013 – also nach dem Vorfall, um den es in diesem Fall ging – ist diese Richtlinie transparent und deutlich durch § 11 BioStoffV umgesetzt worden (Grüneberg/Kohte in: HK-Gesamtes Arbeitsschutzrecht, 2. Aufl. 2017, BioStoffV Rn. 29). Dies war eine Klarstellung, denn die Pflichten des Arbeitgebers waren vor 2013 bereits durch den in diesem Fall verletzten früheren § 10 Abs. 1 BioStoffV normiert worden. Die TRBA 250 ist entsprechend aktualisiert worden (Schoeller, ASUmed 2015, 27, 271 ff.). In den 2014 veröffentlichten Leitlinien für die Tätigkeit mit Biostoffen hat der Länderausschuss für Sicherheit (LASI) diese Anforderungen ebenfalls präzisiert, um die Aufsicht entsprechend intensivieren zu können. Gerade die Neufassung von § 11 BioStoffV zeigt anschaulich, dass der sektorale soziale Dialog ein geeignetes Mittel ist, um realitätsnahe Arbeitsschutzvorschriften setzen zu können (Lörcher, Festschrift für Kohte, 2016, S. 941 ff.).
Im Prozess war von keiner Seite thematisiert worden, dass hier auch § 8 BioStoffV nachhaltig verletzt worden sein dürfte. Danach darf eine Arbeit erst übertragen und durchgeführt werden, wenn eine schriftliche Gefährdungsbeurteilung vorliegt. Aus einer regelhaften Gefährdungsbeurteilung hätte sich hier ebenfalls ergeben, dass die Nutzung „traditioneller Kanülen“ nicht mehr zulässig war. In solchen Rechtsstreitigkeiten bietet es sich sowohl für die Parteien als auch für das Gericht an, Existenz und Inhalt einer Gefährdungsbeurteilung vorrangig zu klären.
Im vorliegenden Fall war Folge der Pflichtverletzung eine gravierende Berufskrankheit. Wenn mangels Arbeitsunfall oder Berufskrankheit § 104 SGB VII nicht zum Tragen kommt, haftet der Arbeitgeber bereits bei fahrlässiger Informationspflichtverletzung nach § 280 BGB i.V.m. § 12 ArbSchG/§ 14 BioStoffV, wie das BAG schon in seiner ersten Entscheidung zu haftungsrechtlichen Konsequenzen bei Missachtung des ArbSchG festgestellt hatte (BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 628/05 – NZA 2007, 262).
Schließlich ist zu bedenken, dass sich bei Verletzung von Hygienevorschriften im Gesundheitswesen auch medizin- und verbraucherrechtliche Fragen stellen, denn in der Verwendung riskanter Kanülen liegt regelmäßig auch eine Verletzung des Medizinproduktegesetzes. Dies kann zu Schadensersatzansprüchen nach den §§ 280, 823 BGB führen (Kohte, VuR 2010, 449) und auch Gegenstand von Aufsichtsmaßnahmen sein (OVG Münster, Beschl. v. 29.09.2010 – 13 A 2422/09 – VuR 2010, 469).
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