Nachfolgend ein Beitrag vom 9.10.2017 von Cranshaw, jurisPR-InsR 20/2017 Anm. 6
Leitsätze
1. Die Zwangsvollstreckung aus einem Eröffnungsbeschluss ist nur dann gemäß § 765a ZPO einzustellen, wenn eine zusätzliche insolvenzuntypische Härte vorliegt. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn der Insolvenzverwalter beabsichtigt, die Immobilie der Schuldnerin, in der diese eine Zahnarztpraxis betreibt, zu verkaufen, und er deshalb die Räumungsvollstreckung gegen die Schuldnerin betreibt.
2. Dies gilt auch dann, wenn der Insolvenzverwalter bereits zuvor die Erklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO hinsichtlich der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin abgegeben hat.
A. Problemstellung
Ist der Insolvenzschuldner natürliche Person und freiberuflich tätig, empfiehlt sich für den Insolvenzverwalter häufig die Erklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO, d.h. die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit aus der Masse. Es entstehen dann keine Masseverbindlichkeiten mehr aus der begonnenen oder meist fortgeführten selbstständigen Tätigkeit. Ob und inwieweit der Schuldner an den Verwalter daraus Beträge für die Masse abführt, richtet sich nach § 35 Abs. 2 Satz 2 InsO i.V.m. § 295 Abs. 2 InsO und ist davon abhängig, wie sich der Schuldner fiktiv als Arbeitnehmer am Markt positionieren könnte und nicht davon, welchen Gewinn er als Selbstständiger tatsächlich erzielt. Der Insolvenzverwalter wird die Vorteile der Führung der selbstständigen bzw. freiberuflichen Tätigkeit in der Masse gegenüber der Freigabe abwägen. Ist der Schuldner z.B. Arzt, kann der Verwalter freilich ohnehin nicht die ärztliche Tätigkeit wirklich steuern, dagegen stehen z.B. vorrangiges ärztliches Standesrecht und die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen über die vertragsärztliche bzw. vertragszahnärztliche Versorgung (vgl. Kapitel 4 SGB V, u.a. die §§ 69 ff., 72 bis 76 und 95 SGB V). Der Verwalter ist nicht Arzt, er kann auch nicht etwa die Medikation des Vertragsarztes oder die Praxisorganisation effektiv bestimmen, § 80 InsO hilft hier nur wenig. Allerdings ist daher z.B. der Arzneikostenregress wegen Richtgrößenüberschreitung durch den Arzt bei der Medikation keine Masseverbindlichkeit, sondern Neuforderung. Honorarberichtigungen der kassenärztlichen bzw. kassenzahnärztlichen Vereinigungen bei Überzahlungen sind aber Masseverbindlichkeiten (BSG, Urt. v. 15.07.2015 – B 6 KA 30/14 R – ZInsO 2015, 2094; dazu Cranshaw, SGb 2016, 465), ebenso wie die Kosten des Praxisbetriebs. Die somit wohl meist sinnvolle Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO führt jedoch bei unpräziser Darstellung der freigegebenen Gegenstände zu Missverständnissen und rechtlichen Auseinandersetzungen, wenn wie in der Besprechungsentscheidung offenbar die Überzeugung des Schuldners bzw. der Schuldnerin besteht, auch die Immobilie, in der er seine Tätigkeit ausübt, sei natürlich vom Insolvenzbeschlag freigegeben.
Vorliegend hat sich das AG Hamburg damit auseinandergesetzt, ob sich der Schuldner gegen den Verlust der Nutzung der Betriebsimmobilie infolge der Vollstreckung des Herausgabeverlangens seitens des Insolvenzverwalters gemäß § 148 Abs. 2 InsO durch den Vollstreckungsschutzantrag gemäß § 765a ZPO zur Wehr setzen könne.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Ein Zahnärzteehepaar unterhielt bis zum 30.06.2015 eine gemeinschaftliche Praxis in der Rechtsform der BGB-Gesellschaft; diese befindet sich in der gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung. Die von der GbR genutzte Immobilie war Alleineigentum der Ehefrau, über deren Vermögen am 28.04.2015 vom AG Hamburg das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Am selben Tage wurde auch das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Ehemannes eröffnet. Ab dem 01.07.2015 waren die Eheleute in Einzelpraxen als Zahnärzte, aber in Praxisgemeinschaft in derselben Immobilie tätig. In tatsächlicher Hinsicht hatte sich also nichts geändert.
Der Insolvenzverwalter der Schuldnerin gab am 08.07.2015 die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO ab und unterrichtete das Insolvenzgericht darüber. Nachdem die Gläubigerversammlung der freihändigen Veräußerung des streitgegenständlichen Grundstücks der Schuldnerin zugestimmt hatte, verkaufte der Insolvenzverwalter dieses an einen dritten Interessenten; die Ablösung der „freien Spitze“ zugunsten der Masse durch das Zahnarztehepaar war zuvor gescheitert.
Der Verwalter forderte von den Ehegatten für die Zeit von Juli 2015 bis April 2016 vergeblich eine Nutzungsentschädigung von 1.500 Euro monatlich, so dass er den Gesamtbetrag einklagte. Eine Vereinbarung über die Räumung mit den beiden Beteiligten, so der Bericht des Insolvenzverwalters an das Insolvenzgericht, sei nicht zustande gekommen. Daraufhin beauftragte er den Gerichtsvollzieher mit der Räumung der Immobilie auf der Grundlage des Insolvenzeröffnungsbeschlusses. Die Räumung sollte am 31.01.2017 zwangsweise erfolgen, der Gerichtsvollzieher hatte dies am 12.01.2017 angekündigt. Hiergegen wandte sich die Schuldnerin mit dem Antrag vom 17.01.2017, die Räumungsvollstreckung bis zum 30.06.2017 gemäß § 765a ZPO einzustellen. Durch bürotechnische Verwirrungen des Büros des Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin und beim AG Hamburg-Wandsbek (Mitteilung und Verwendung einer falschen Faxnummer) ging der Antrag nach § 765a ZPO beim AG Hamburg-Wandsbek/Vollstreckungsgericht per Post am 18.01.2017 ein, das sich einen Tag später für unzuständig erklärte und an das für Insolvenzsachen in Hamburg allein zuständige AG Hamburg/Insolvenzgericht verwies.
Die Schuldnerin trug in ihrem Antrag in tatsächlicher Hinsicht u.a. vor, der Insolvenzverwalter habe die Immobilie nach § 35 Abs. 2 InsO aus der Masse freigegeben bzw. er habe mit ihr ein faktisches Nutzungsverhältnis begründet.
II. Das AG Hamburg hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen, denn er war später als zwei Wochen vor der Räumung gestellt worden (vgl. § 765a Abs. 3 ZPO); eine Ausnahme i.S.d. § 765a Abs. 3 HS. 2 ZPO (Eintritt des den Antrag begründenden Umstandes in der Zwei-Wochen-Frist oder unverschuldete Fristversäumung) hat das Insolvenzgericht verneint. Die fehlerhafte Information über die Faxnummer durch eine Bedienstete des AG Hamburg-Wandsbek sei für die Mitarbeiterin des Verfahrensbevollmächtigten leicht erkennbar gewesen. Von einer entschuldigten Fristversäumung könne daher keine Rede sein, der Fehler des Verfahrensbevollmächtigten gehe zulasten der Schuldnerin.
Der Antrag sei aber auch unbegründet. Die Zwangsräumung sei hier keine mit den guten Sitten unvereinbare Härte. § 765a ZPO sei als Schuldnerschutzvorschrift zwar auch im Insolvenzverfahren gegen Vollstreckungsmaßnahmen des Insolvenzverwalters gegenüber dem Schuldner gemäß § 148 Abs. 2 InsO anzuwenden. Die Norm sei aber eng auszulegende Ausnahmevorschrift. Nach der Rechtsprechung des BGH seien bei der Interessenabwägung nach § 765a ZPO die Ziele der InsO „und die Besonderheiten der Gesamtvollstreckung grundsätzlich vorrangig zu berücksichtigen.“ Die Entscheidung rückt sodann die zentrale Frage des Vorliegens einer „insolvenzuntypischen Härte“ in den Vordergrund, die hier nicht vorliege und zu der die Schuldnerin auch nichts vorgetragen habe. Gewiss werde durch die Zwangsräumung der betrieblichen Immobilie in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Schuldnerin nach den Art. 12 und 14 GG eingegriffen, die anerkanntermaßen Drittwirkungen zwischen Privaten entfalteten, so dass sich die Schuldnerin über § 765a ZPO auch darauf berufen könne. Das Recht am Gewerbebetrieb (hier an der freiberuflichen Tätigkeit) wird aber, so die Besprechungsentscheidung, nicht schrankenlos und ohne Beachtung von Eingriffsmöglichkeiten im Interesse widerstreitender Grundrechte Dritter gewährt. Das seien hier die Eigentumsrechte der Insolvenzgläubiger hinsichtlich ihrer Insolvenzforderungen nach Art. 14 GG, deren Schutz § 148 Abs. 2 InsO diene. Diese Norm ermögliche die Räumung einer Immobilie des Schuldners (sofern sie Massebestandteil ist), um sie zu verwerten. Der Eingriff sei vorliegend auch verhältnismäßig. Die Schuldnerin könne weiterhin ihre Zahnarztpraxis betreiben, nur eben insolvenztypisch nicht in ihrer eigenen Immobilie. Zweck des Insolvenzverfahrens sei gerade die Eigentumsentziehung gegenüber dem Schuldner im Verwertungsinteresse der Gläubiger. Der Schuldnerin sei ein Umzug daher zuzumuten. Der Insolvenzverwalter habe zudem angeboten, ihr das Praxisinventar zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit in einer neuen Immobilie zu übergeben und ihr auch hinreichend Zeit zum Umzug belassen. Diese Option habe die Schuldnerin nicht wahrgenommen.
Der (nahezu erwartungsgemäße) Einwand der Schuldnerin, der Verwalter habe die verfahrensgegenständliche Immobilie nach § 35 Abs. 2 InsO freigegeben, ist bei der Abwägung nach § 765a ZPO, so das AG Hamburg, nicht zu berücksichtigen, denn systematisch gehen diesem Einwand aus dem Blick des AG Hamburg zunächst andere dem Schuldner zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe als leges speciales vor. Bei gegenteiliger Betrachtung würde die Ausnahmeregel des § 765a ZPO zu einer „universellen Vollstreckungsabwehrnorm aufgewertet“. Die „unerträgliche sittenwidrige Härte“, die § 765a ZPO verhindern will, müsse aber gerade durch die konkrete Vollstreckungsmaßnahme bewirkt werden. Die Herausgabevollstreckung des Insolvenzverwalters gemäß § 148 Abs. 2 InsO in ein etwa aus der Masse freigegebenes Grundstück gehöre nicht dazu. Sie wäre zwar in diesem Fall unzulässig, aber nicht aus den Gründen des § 765a ZPO, sondern weil das Grundstück eben nicht mehr massezugehörig ist und daher der Eröffnungsbeschluss kein tauglicher Titel zu dessen Räumung darstellt. Der Rechtsbehelf hiergegen sei aber die Erinnerung gemäß § 766 ZPO (bzw. die Abwehrklage gemäß § 767 ZPO). Den Vortrag der Schuldnerin über das Bestehen eines faktischen Nutzungsverhältnisses über die Immobilie zwischen ihr und dem Verwalter weist die Besprechungsentscheidung ebenfalls als im Verfahren nach § 765a ZPO unbeachtlich zurück und lässt daher die Frage eines solchen Rechtsverhältnisses offen. Diese Einwendung der Schuldnerin richtet sich nach Meinung des AG Hamburg nicht gegen die Vollstreckungsmaßnahme selbst. Abschließend resümiert die Entscheidung, die Rechtsordnung habe u.a. über die Insolvenzordnung eine Interessenabwägung zwischen Schuldner- und Gläubigerinteressen vorgenommen. § 765a ZPO sei dann wohl nur noch heranzuziehen, wenn es um die grundrechtlich geschützten Positionen der Schuldnerin gehe, die „Leben und körperliche Unversehrtheit“ beträfen, wie beispielsweise drohende Obdachlosigkeit. Zu all dem habe die Schuldnerin nichts vorgetragen.
C. Kontext der Entscheidung
I. Vorweg ist festzuhalten, dass der Beschluss des AG Hamburg/Vollstreckungsgericht auf der Linie des BVerfG und des BGH zu Inhalt und Tragweite des § 765a ZPO liegt (vgl. nur den vom AG Hamburg auch zitierten Beschluss des BVerfG zum Vollstreckungsschutz gegen die Räumung einer Mietwohnung, BVerfG, 1. Senat 1. Kammer, Beschl. v. 27.06.2005 – 1 BvR 224/05 – Rpfleger 2005, 614).
II. Neben dem hier nicht weiter erwähnenswerten verfahrensrechtlichen Fehler auf der Ebene der Schuldnerin gibt die Entscheidung Anlass zu einigen weiteren Feststellungen. Mit der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO ermöglicht der Verwalter dem Schuldner die Berufsausübung einer selbstständigen – hier freiberuflichen – Tätigkeit außerhalb der Masse, so dass ihm weder die Erträge aus dieser Tätigkeit zufließen noch ihn die Belastungen als Masseverbindlichkeit treffen. Anders als die sonst im Insolvenzverfahren mögliche und in der Insolvenzordnung angelegte Option, einzelne Massegegenstände aus der Masse freizugeben, zeigt der Wortlaut des § 35 Abs. 2 InsO, dass hier eine Gesamtheit von Sachen und Rechten freigegeben wird, die natürlich in der Erklärung positiv wie negativ abgegrenzt werden können von den weiterhin massezugehörigen Gegenständen. Der Streit um die gewerbliche Immobilie zeigt das hier deutlich. Zutreffend wird in der Literatur betont, bei fehlender Bestimmung der freigegebenen Vermögensgegenstände seien alle erfasst, die für die selbstständige Tätigkeit „sinnvoll oder erforderlich“ seien, und es wird eine Positivliste der freigegebenen Gegenstände empfohlen (vgl. Büteröwe in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 35 Rn. 45). Im Streit sei der Umfang der Freigabe eine Auslegungsfrage. Das ärztliche Praxisinventar einer Zahnarzt- oder Arztpraxis mit dem Inhaber als einzigem ärztlichen Mitarbeiter wird aber ohnehin bereits von § 811 Abs. 1 Nr. 7 ZPO i.V.m. § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO gegen den Zugriff des Insolvenzverwalters ganz weitgehend geschützt und kann daher übrigens nicht mit konstitutiver Wirkung „freigegeben“ werden. Den betroffenen freiberuflich tätigen Schuldner trifft bei mangelndem Erwerbswillen entgegen § 287b InsO zwar das Risiko der Versagung der Restschuldbefreiung (vgl. § 290 Abs. 1 Nr. 7 InsO), das indes recht gering ist, wenn sich entweder die Erträge aus der selbstständigen Tätigkeit nach Freigabe als sehr hoch herausstellen und der Schuldner daher die ihm nach § 35 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 295 Abs. 2 InsO treffende Abführungspflicht leicht erfüllen kann oder wenn der Schuldner am Arbeitsmarkt für abhängig Beschäftigte nur eine bescheidene Anstellungschance hätte, beispielsweise bei einem Schuldner nahe dem Rentenalter. Damit fokussiert sich die Problematik nicht selten wie hier auf die im Eigentum des Schuldners befindliche betriebliche Immobilie, ist sie doch scheinbar schlechthin für die selbstständige Tätigkeit unverzichtbar, bei Arztpraxen z.B. auch deshalb, weil eine Praxis an anderer, ggf. entfernterer Stelle, zum Rückgang der Patientenzahl führen kann.
Der Verwalter sollte sich angesichts der Imponderabilien der Auslegungsfähigkeit einer Freigabeerklärung analog den §§ 133, 157 BGB zur Risikovermeidung bei der Erklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO mindestens klar dahingehend positionieren, dass die betrieblich genutzte Immobilie nicht mit freigegeben wird. Vorliegend hat die Schuldnerin immerhin zunächst nur eine Verlängerung der Räumungsfrist um einige Monate gefordert, der aber im Zweifel weitere Verlängerungsanträge gefolgt wären.
Zum Weiteren hat das AG Hamburg erfrischend klar zum Ausdruck gebracht, dass Zweck des Insolvenzverfahrens gerade die Verwertung des Schuldnervermögens ist und damit die Enteignung des Schuldners im Interesse der Befriedigung der Gläubiger geradezu voraussetzt. Diese Abwägung hat das Gesetz u.a. in § 1 InsO getroffen. Der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb des Schuldners als natürliche Person bzw. seine freiberufliche Tätigkeit ist als solche freilich nicht Massebestandteil, lediglich die etwaigen Erträge daraus (z.B. die Honoraransprüche gegen die KÄV bei Ärzten) und die Kosten der freiberuflichen Praxis, Kanzlei, des Ingenieurbüros usw., soweit der Verwalter diese Tätigkeit mit dem Schuldner fortführt oder ggf. „duldet“ (Büteröwe in: K. Schmidt, InsO, § 35 Rn. 50 f.).
III. Der Antrag nach § 765a ZPO steht dem Schuldner natürlich auch im Insolvenzverfahren zur Seite. Er ist erfolgreich, sofern der Schuldner seinen Antrag im Vollstreckungsverfahren eines dinglichen Gläubigers in eine Immobilie (vgl. § 49 InsO) mit „Gefahr für Leben und körperliche Unversehrtheit“ begründen kann (vgl. BGH, Beschl. v. 18.12.2008 – V ZB 57/08 Rn. 10 – ZInsO 2009, 254, Suizidgefahr eines nahen Angehörigen). Das sind die klassischen Fälle, deren Sachverhalte BGH und BVerfG seit Jahrzehnten am Maßstab des § 765a ZPO messen. Aber auch hier ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, ob die Gefahr nicht anders abzuwehren ist als mit der Einstellung der Vollstreckung, wobei auch der Betroffene zur Risikominderung beitragen muss, soweit ihm möglich und zumutbar (vgl. BGH, Beschl. v. 04.05.2005 – I ZB 10/05 – BGHZ 163, 66, von der Besprechungsentscheidung ebenfalls zitiert, siehe Rn. 15).
§ 765a ZPO greift auch dann, wenn in Extremfällen eine Verschleuderung von Schuldnervermögen durch die Vollstreckung droht (vgl. BGH, Beschl. v. 15.12.2011 – V ZB 124/11 Rn. 16, 18 – Rpfleger 2012, 337, Zuschlag über eine Wohnung im Zwangsversteigerungsverfahren für 3.600 Euro bei einem festgesetzten Wert von 66.000 Euro).
IV. Berücksichtigt man insbesondere, dass § 765a ZPO in den Fällen der Verschleuderung im Einzelfall herangezogen werden kann, so ist die Norm auch anzuwenden und ihre Voraussetzungen sind zu prüfen, wenn der Schuldner geltend macht, durch eine Vollstreckungsmaßnahme werde sein eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb bzw. seine freiberufliche Tätigkeit, die Basis seiner wirtschaftlichen Existenz ist, sittenwidrig hart i.S.d. § 765a ZPO betroffen. Allerdings kann dieses Argument nur ausnahmsweise zum Erfolg führen, da der Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO eben nur in Ausnahmefällen gewährt werden kann und der Betroffene selbst die Obliegenheit hat, an der Beseitigung einer vollstreckungsrechtlichen Härte mitzuwirken, soweit ihm zumutbar (vgl. o.). Die Anmietung anderer Praxisräume ist zumutbar. War für die Räumung hinlänglich Frist eingeräumt, kann § 765a ZPO erst recht nicht zur Einstellung der Zwangsvollstreckung führen. Die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ist gerade keine Garantie, die selbstständige Tätigkeit in den gewohnten Räumen durchführen zu können, auch wenn der Umzug zu Risiken im Hinblick auf den Betrieb führt, z.B. zu dem Risiko des Rückgangs von Patientenzahlen. Ob die Gläubiger anders entscheiden und die Nutzung dem Insolvenzschuldner weiter gegen angemessenes Entgelt belassen, ist eine andere Frage. Der Eingriff in das Besitzrecht des Schuldners wie im vorliegenden Fall muss angesichts der Grundrechtsbetroffenheit verhältnismäßig sein, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.
V. Die weiteren Einwände der Schuldnerin zur Freigabe des Grundstücks oder zur Existenz einer faktischen Nutzungsabrede fallen nicht unter § 765a ZPO, sondern unter § 766 ZPO (bzw. § 767 ZPO) und sind daher im Verfahren nach § 765a ZPO von vornherein nicht zu beachten. Auch insoweit ist der Besprechungsentscheidung zuzustimmen.
D. Auswirkungen für die Praxis
I. Bei der Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 InsO sollte der Verwalter die betriebsnotwendige Immobilie ausdrücklich nicht mit freigeben. Bei unklaren Erklärungen besteht das Problem der Auslegungsfähigkeit. Eine Positivliste der freigegebenen Gegenstände als Bestandteil der Erklärung erscheint sachgerecht, wenn auch diese der Natur der Sache nach meist nicht ohne Bezugnahmen z.B. auf Sachgesamtheiten auskommen wird.
II. Die Verfahrensbevollmächtigten der Schuldner müssen, wie die Besprechungsentscheidung zeigt, sorgfältig darauf achten, welchen vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelf sie der Vollstreckungsmaßnahme bzw. dem Verwalter entgegenhalten können und sowohl die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen als auch die Fristen (§ 765a Abs. 3 ZPO mag da etwas atypisch sein) strikt beachten, um einen wie hier unzulässigen oder untauglichen Antrag zu vermeiden. Möglicherweise sind mehrere zulässige Rechtsbehelfe im Einzelfall notwendig oder doch zweckmäßig.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Nicht nachvollziehbar ist allerdings der Tenor des Beschlusses des AG Hamburg, denn er lautet, der Beschwerde der Schuldnerin werde nicht abgeholfen. Angesichts der oben wiedergegebenen Gründe handelt es sich aber nicht um die Abhilfe gegen eine Beschwerde, sondern eine Erstentscheidung auf den Antrag gemäß § 765a ZPO, für den das Insolvenzgericht zuständig ist (BGH, Beschl. v. 15.11.2007 – IX ZB 34/06 Rn. 10 m.w.N., vgl. auch Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 765a Rn. 13). Funktionell entscheidet der Rechtspfleger (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 17 RpflG, umstr., vgl. dazu Seiler in: Thomas/Putzo, ZPO, § 765a Rn. 13 m.w.N.). Dagegen ist die sofortige Beschwerde nach § 11 Abs. 1 RpflG, § 793 ZPO statthaft. Erst hier begründet § 572 Abs. 1 ZPO eine Abhilfemöglichkeit. Warum so tenoriert wurde wie geschehen, kann dem Beschluss nicht entnommen werden.
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