Nachfolgend ein Beitrag vom 25.10.2018 von Oldenburger, jurisPR-MedizinR 9/2018 Anm. 1
Leitsätze
1. Der Arzt hat sicherzustellen, dass der Patient von Arztbriefen mit bedrohlichen Befunden – und ggf. von der angeratenen Behandlung – Kenntnis erhält, auch wenn diese nach einem etwaigen Ende des Behandlungsvertrags bei ihm eingehen. Der Arzt, der als einziger eine solche Information bekommt, muss den Informationsfluss aufrechterhalten, wenn sich aus der Information selbst nicht eindeutig ergibt, dass der Patient oder der diesen weiterbehandelnde Arzt sie ebenfalls erhalten hat.
2. Zur Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob.
A. Problemstellung
Im Zentrum der Entscheidung steht die Frage, wann die ärztliche Pflicht zur Informationsweitergabe anlässlich eines Behandlungsvertrages endet. Ist das mit dem tatsächlichen Behandlungsende (letzter Arzt-Patienten-Kontakt?) der Fall, nach Überweisung in fachärztliche Weiterbehandlung oder Beginn einer stationären Krankenhausbehandlung? Erhält der/die zunächst behandelte Arzt/Ärztin durch ein Versehen (zufällig?) wichtige Informationen in Bezug auf eine/n (ehemaligen) Patienten/in, besteht eine Verpflichtung zur Weitergabe oder Einbestellung? Ist das Unterlassen der Weiterleitung anlässlich des regulären Praxisbetriebes noch hinzunehmen oder behandlungsfehlerhaft, obschon der Behandlungsvertrag tatsächlich beendet war? Ist dieses Unterlassen bei bedeutsamen Inhalten des versehentlich erhaltenen Arztbriefes gar grob sorgfaltswidrig?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger begab sich in hausärztliche Behandlung bei der Beklagten. Diese stellte eine Überweisung zur fachärztlichen Weiterbehandlung aus. Der Kläger ließ sich sodann notfallmäßig im Krankenhaus behandeln. Das Krankenhaus übermittelte einen ersten Arztbrief an die Fachärztin. Sodann erfolgte eine Überweisung des Klägers zur erneuten stationären Behandlung. Irrtümlicherweise übermittelte das Krankenhaus den weiteren Arztbrief jedoch nicht der Fachärztin, sondern an die Beklagte und lediglich nachrichtlich an die Fachärztin. Wenige Tage später wurde ein erneuter Arztbrief versandt, der ausschließlich an die Beklagte adressiert war und die Information enthielt, dass bei dem Kläger ein bösartiger Tumor festgestellt worden sei; die Bitte nach einer onkologischen Vorstellung wurde geäußert. Die Beklagte leitete dieses Schreiben jedoch nicht an den Kläger weiter. In der Folge musste der Kläger wegen der Tumorbehandlung wiederholt stationär operativ behandelt werden.
Das Oberlandesgericht hatte die Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld abgewiesen und ausgeführt, dass kein grober Behandlungsfehler vorliege. Es sei im alltäglichen Praxisablauf nachvollziehbar, dass die Weiterleitung dieses Arztbriefes unterlassen wurde. Es habe sich insbesondere nicht aufgedrängt, dass die Beklagte als maßgebliche Behandlerin und einzige Adressatin fehlerhaft vom Krankenhaus ausgewählt worden sei. Bei einem lediglich einfachen Behandlungsfehler könne deshalb die Kausalität des Fehlers für den weiteren Verlauf der Erkrankung des Klägers nicht angenommen werden.
Der BGH hat diese Entscheidung aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Denn die dortigen Bewertungen zur Frage des Behandlungsfehlers und Einordnung eines solchen Fehlers als besonders grob seien durch die maßgeblichen Tatsachen nicht gedeckt. Wird ein Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu umgehenden umfassenden ärztlichen Maßnahmen gibt, nicht informiert und ihm die erforderliche ärztliche Beratung deshalb versagt, liegt ein schwerer ärztlicher Behandlungsfehler vor (vgl. BGH, Urt. v. 25.04.1989 – VI ZR 175/88 – BGHZ 107, 222, 225 f.; BGH, Urt. v. 11.04.2017 – VI ZR 576/15 – NJW 2018, 621). Gerade bei Hausärzten, die Patienten/innen langjährig betreuen, bestehe eine besondere Schutz- und Fürsorgepflicht. Jeder Arzt, insbesondere aber langjährig betreuende Hausärzte, hätte sicherzustellen, dass Patienten von Arztbriefen mit bedrohlichen Befunden Kenntnis erhalten. Diese Pflicht ende nicht mit der Überweisung zur weiteren Behandlung an Fachärzte/innen. Es sei geboten, Gefährdungen von Patientinnen und Patienten zu verhindern; Hausärzte seien von daher schon immer verpflichtet, erkannte oder erkennbare gewichtige Bedenken gegen Diagnosen und Therapien anderer Ärzte mit den Patienten/innen zu erörtern und zu deren Schutz erforderliche Maßnahmen zu ergreifen. Die Beklagte konnte aus dem Arztbrief entnehmen, dass sie, auch irrtümlich, als behandelnde Ärztin von Seiten des Krankenhauses angesehen wurde. Sie durfte daher nicht sehenden Auges den Kläger gefährden, indem sie die wichtigen Informationen nicht an diesen weiterleitete. Es komme daher entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts auf einen einige Monate zurückliegenden letzten Behandlungstag nicht an, denn bereits aus dem Arztbrief als solchem sei eindeutig erkennbar, dass die Beklagte als (angenommene) Behandlerin alleine über die Befundung informiert worden war. Die Anforderungen an die Informationsweitergabe seien von daher gerade bei langjähriger ärztlicher Betreuung, wie es bei Hausärzten üblich ist, hoch. Ein Hinweis auf alltägliche Abläufe, bei denen so etwas „durchrutschen“ könne, genüge diesen Anforderungen in rechtlicher Hinsicht nicht.
C. Kontext der Entscheidung
Ärztliche Behandlungsfehler können nicht nur anlässlich des konkreten Behandlungsvertrages entstehen. Sie setzen sich über das Ende dieses Vertrages fort. Insbesondere bei langjährig hausärztlich versorgten Patienten/innen folgen aus dem Behandlungsvertrag nachwirkende Schutz- und Fürsorgepflichten, die eine Haftung bei Pflichtverletzungen begründen. Trotz Überweisung und ambulanter oder stationärer Weiterbehandlung bleibt die Verpflichtung bestehen, wichtige Informationen weiterzuleiten und ggf. sogar erforderliche ärztliche Beratungen durchzuführen. Gerade bei bedrohlichen Befunden wird das Unterlassen dieser Patienteninformationen als schwerer ärztlicher Behandlungsfehler aufzufassen sein. Der BGH erweitert daher die ärztlichen Fürsorgepflichten, gerade bei langjährigen Arzt-Patienten-Beziehungen, deutlich über das Behandlungsende hinaus. Erlangt der/die zuvor behandelnde Arzt/Ärztin Informationen im Hinblick auf die Weiterbehandlung, besteht eine Pflicht zur Erörterung mit dem Patienten, wenn gewichtige Bedenken gegen Diagnose und Therapie anderer Ärzte bestehen. Der Patientenschutz wird verstärkt, so dass Informationen und Aufklärung des Patienten in allen Fällen von erkennbaren Fehlern oder Verdachten, es könne ein Fehler bei der Weiterbehandlung vorliegen, obligatorisch verpflichtend sind.
Und, das ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Entscheidung, die Einschätzung, ob der Sorgfaltspflichtsverstoß besonders grob gewesen ist, erfolgt nicht durch Sachverständige, sondern durch den Tatrichter. Dabei hat eine qualifizierte Orientierung an den ärztlichen Gutachten zu erfolgen, der Prozessstoff muss umfangreich gewürdigt werden, was letztlich auch revisionsrechtlich überprüfbar ist.
Insgesamt werden durch diese Entscheidung Patientenrechte aus dem Behandlungsvertrag im Wege der nachwirkenden Fürsorge- und Schutzpflicht gestärkt, die ärztlichen Verpflichtungen bei langzeitigen Arzt-Patienten-Verhältnissen erweitert und der erforderliche Rahmen der juristischen Auseinandersetzung zur Feststellung eines groben Behandlungsfehlers geschärft.
D. Auswirkungen für die Praxis
Für die ärztliche Praxis folgt aus dieser Entscheidung die Pflicht, sämtliche eingehenden Informationen auch im Falle von Weiterbehandlungen durch andere Fachärzte und Krankenhäuser an den/die Patienten/innen weiterzuleiten. Demgemäß sollte es klare praxisinterne Anweisungen geben. Auch dann, wenn Kenntnisse über mögliche Behandlungsfehler der Weiterbehandler erlangt werden, besteht die Verpflichtung, die Patientin/den Patienten hierüber zu informieren, um sich selbst nicht in die Gefahr einer eigenen Haftung zu begeben. Die Anforderungen an eine Exkulpation sind nach dieser Entscheidung hoch. In zeitlicher Hinsicht kommt dem Ende der eigenen Behandlung keine haftungsausschließende Bedeutung mehr zu. In tatsächlicher Hinsicht können auch Irrtümer der Weiterbehandler bei der Angabe der/des behandelnden Arztes/Ärztin nicht zur eigenen Entlastung verwendet werden. Von daher sind die Praxisabläufe in Bezug auf die Weitergabe solcher Informationen anzupassen, um dem Patientenschutz zu entsprechen.
In Bezug auf die tatrichterliche Würdigung wird eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Prozessstoff und insbesondere den Inhalten von Gutachten gefordert. Die Übernahme der „schlüssigen und überzeugenden“ Argumente aus Gutachten genügt den rechtlichen Anforderungen an die Feststellung nicht, es sind eigene juristische Wertungen ausgehend von den mitgeteilten relevanten Fakten vorzunehmen und daher die gutachterlichen Feststellungen auf einer anderen, juristischen, Ebene zu bewerten. Inwieweit das Tatrichtern/innen gelingt und gelingen kann, da diese regelmäßig nicht über eine medizinische Qualifikation verfügen, erscheint fragwürdig. Wie auch in anderen Bereichen des Rechts, werden Forderungen nach eigener Überzeugungsbildung formuliert, die in Ermangelung dafür erforderlicher Qualifikationen faktisch nicht von ausschließlich juristisch ausgebildeten Tatrichtern/innen erbracht werden können. In der Folge erscheint dasjenige, was tatrichterlich revisionssicher wertend festgestellt werden soll, allenfalls deskriptiv unangreifbar. Die innere Überzeugung von der Richtigkeit der Bewertung kann letztlich aber nicht authentisch sein – und damit über den Einzelfall hinaus wirken. Es besteht deshalb die nicht sehr reale Hoffnung, dass der/die Tatrichter/in auch komplexe medizinische Zusammenhänge versteht und den Break Even Point von einfachem und grobem Behandlungsfehler demgemäß juristisch zutreffend wertend zu bestimmen in der Lage ist.
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