Nachfolgend ein Beitrag vom 30.8.2018 von Hebben-Dietz, jurisPR-MedizinR 7/2018 Anm. 5, hier erneut zu der Thematik „Genehmigungsfiktion“, bitte beachten Sie auch den vorherigen Beitrag!
Leitsatz
§ 13 Abs. 3a SGB V begründet einen eigenen Anspruch der Berechtigten, den ihnen das Gesetz kraft Genehmigungsfiktion durch fingierten Verwaltungsakt zuerkennt. Die Rechtmäßigkeit der fingierten Genehmigung hängt nicht davon ab, ob dem Versicherten auch ohne die Fiktion ein Anspruch auf diese Leistungen zustehen würde.
A. Problemstellung
§ 13 Abs. 3 SGB V wurde geschaffen, um den Leistungsberechtigten den Zugang zu den von Ihnen beantragten und notwendigen Leistungen zu vereinfachen. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V enthält eine Genehmigungsfiktion, wonach eine Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt. Voraussetzung für den Eintritt der Genehmigungsfriktion ist, dass ein Leistungsberechtigter einen hinreichend bestimmten Antrag auf eine Leistung gestellt hat, die er für erforderlich halten durfte und die nicht außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt (vgl. BSG, 1. Senat, Urt. v. 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Der 3. Senat des BSG (Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R) hat zu erkennen gegeben, dass er sich ggf. dieser Rechtsprechung entgegenstellen würde.
Aufgrund dieser erkennbaren Tendenz sind gesetzliche Krankenversicherungen dazu übergegangen, nach Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V die Rücknahme der fingierten Genehmigung gemäß § 40 SGB X zu erklären, um die Freistellung der per Gesetz eingetretenen Leistungspflicht zu erreichen. Ein solches Vorgehen beschäftigt derzeit die Sozialgerichte, und auch die diskutierte Entscheidung nimmt diese Problematik auf.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin ließ wegen Adipositas per magna eine Schlauchmagenoperation an sich durchführen, in deren Folge es zu einem Gewichtsverlust von 57 kg (von 147 kg auf 90 kg) kam. Am 07.07.2016 beantragte die Klägerin förmlich bei der Beklagten die Kostenübernahe für eine Bauchdeckenplastik sowie für eine Brust- und Oberschenkelstraffung jeweils beidseits. Am 29.08.2016 beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstellung eines Gutachtens. Im Gutachten vom 07.09.2016 führte der MDK aus, der Eingriff könne nicht empfohlen werden, da die medizinischen Voraussetzungen für die Leistungen nicht erfüllt seien. Mit Bescheid vom 12.09.2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch am 10.10.2016 mit Hinweis auf den Eintritt der Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a SGB V. Mit Bescheid vom 15.11.2016 hob die Beklagte die durch die Fiktion eingetretene Bewilligung der Bodyliftoperation an Brust, Bauch und Oberschenkel beidseits wieder auf. Zur Begründung führte sie aus, die Genehmigungsfiktion sei zwar eingetreten, müsse aber mangels Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf eine Bodyliftoperation wieder zurückgenommen werden. Hiergegen erhob die Klägerin am 17.11.2016 Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.2017 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. In der am 27.03.2017 dagegen erhobenen Klage beim Sozialgericht stützte die Klägerin ihren Anspruch weiterhin auf die Anspruchsgrundlage des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V.
Das Sozialgericht gab der Klage statt. In der daraufhin von der Beklagten erhobenen Berufung vor dem LSG Stuttgart führte das Landessozialgericht in der Begründung für die Zurückweisung der Berufung aus, dass die beiden angefochtenen Bescheide von der Beklagten rechtswidrig seien und die Klägerin in ihren Rechten verletzten, weil die beantragten Straffungsoperationen abgelehnt und die eingetretenen Genehmigungsfiktionen aufgehoben wurden. In der weiteren Begründung führte das Landessozialgericht aus, der Naturalleistungsanspruch auf Erstattung der Kosten für die beantragten drei vollstationären Straffungsoperationen ergebe sich aus § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V. Der Senat schließe sich ausschließlich der neueren Rechtsprechung des 1. Senats des BSG zu § 13 Abs. 3a SGB V an. Noch erwachse dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch, wenn eine beantragte Leistung als genehmigt gilt. Die Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 Abs. 1 SGB X seien schon deshalb nicht erfüllt, weil die Genehmigung rechtmäßig sei.
C. Kontext der Entscheidung
Nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Hält die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Nach § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V hat die Krankenkasse, sofern sie Fristen nach Satz 1 nicht einhalten kann, dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitzuteilen. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V als genehmigt. Damit entsteht ein Anspruch auf Versorgung mit einer beantragten Leistung als Naturalleistung kraft fingierter Genehmigung des Antrags.
Diesbezüglich hat sich im Nachgang zum Inkrafttreten der Neufassung des § 13 SGB V insbesondere im Hinblick auf die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V eine mannigfaltige Rechtsprechung herausgebildet. Insbesondere der 1. Senat des BSG hat wie folgt festgestellt: Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragssteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarerer Anspruch (BSG, Urt. v. 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R).
Nach dieser Rechtsprechung ist die besondere Situation eingetreten, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen dazu übergegangen sind, den Eintritt der Genehmigungsfiktion als solchen anzuerkennen, den Verwaltungsakt aber gemäß § 45 SGB X zurückzunehmen. Bei der Begründung stützen sich die gesetzlichen Krankenversicherungen auf die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG (Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R). Er führt darin aus, dass die durch § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V gesetzlich fingierte Genehmigung grundsätzlich nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X aufgehoben werden könne, wobei die Voraussetzungen der Genehmigung an den materiell-rechtlich genehmigten Leistungsanspruch gemessen werden. Auf einen Vertrauensschutz kann der Leistungsberechtigte sich dann nicht berufen.
Damit steht die Rechtsprechung des 1. Senats des BSG (ursprüngliches Urt. v. 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R) im Widerspruch zu der des 3. Senats des BSG (Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R). Der beantragende Leistungsberechtigte beruft sich selbstverständlich auf die ihn begünstigende Rechtsprechung des 1. Senats, wohingegen sich die gesetzliche Krankenversicherung auf die sie begünstigende Rechtsprechung des 3. Senats beruft.
Der 3. Senat nimmt in seinem Urteil auf die gesetzliche Regelung der Genehmigungsfiktion in § 42a VwVfG Bezug und sieht in dieser eine Generalklausel, aus der sich auch im Hinblick auf die Aufhebbarkeit der Genehmigungsfiktion Erkenntnisse für die Auslegung des § 13 Abs. 3a SGB V gewinnen lassen. Damit würde der Regelung des § 42 VwVfG eine Bedeutung beigemessen, die ihr im SGB V tatsächlich nicht zukommt, was sich aus Wortlaut und Systematik der § 42a VwVfG und § 13 Abs. 3a SGB V ergibt. Denn mit § 13 Abs. 3a SGB V begegnet der Gesetzgeber einem spezifischen System, der nicht zeitgerechten Entscheidung der Krankenkasse über einen hiervon erfassten Leistungsantrag. Der berechtigte Antragsteller soll schnell Gewissheit erlangen, ob ihm die beantragte Leistung endgültig zusteht. Der gesetzliche Regelungszweck würde verfehlt, sollte man einen rechtmäßig nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V fingierten Verwaltungsakt als eine Leistung eines rechtswidrig bewilligenden Verwaltungsakts ansehen. In einer aktuelleren Entscheidung führt der 1. Senat zusätzlich aus, die Gesamtregelung bezwecke, das Interesse aller Berechtigten an einem beschleunigten Verwaltungsverfahren zu schützen und zögerliche Antragsbearbeitung durch die Krankenkassen zu sanktionieren. Eine Genehmigung sei dementsprechend rechtmäßig, wenn die oben genannten Voraussetzungen der Norm erfüllt seien (vgl. BSG, Urt. v. 07.11.2017 – B 1 KR 24/17).
In dem Urteil des 3. Senats vom 11.05.2017 wurde die Angelegenheit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, um weitere Feststellungen zu treffen, da eine abschließende Beurteilung der Angelegenheit zu dem damaligen Zeitpunkt nicht möglich gewesen ist. Eine valide und belastbare Einschätzung wollte der 3. Senat ausdrücklich nicht abgeben. Vielmehr führt er aus:
„Es erscheint dem 3. Senat indessen untunlich, dass er sich insoweit bereits im jetzigen Verfahrensstadium eine abschließende Überzeugung bildet und ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 41 Abs. 3 SGG einleitet. Ohne entsprechende Feststellungen des LSG kann von der Entscheidungserheblichkeit der im Raum stehenden Rechtsfrage für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreites nicht ohne weiteres ausgegangen werden.“
Der 3. Senat kündigt insoweit lediglich an, der entgegenstehenden Rechtsprechung des 1. Senats voraussichtlich nicht folgen zu wollen. Vor einer Anrufung des Großen Senates des BSG sei aber zunächst die Entscheidungserheblichkeit weiter aufzuklären.
Damit wird anschaulich bestätigt, dass die Problematik der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V noch lange nicht beendet ist. Bisher ist jedoch noch die Rechtsprechung des 1. Senats vorherrschend, da dieser noch nicht ausdrücklich entgegentreten wurde. Gleichwohl hat der 3. Senat für die gesetzlichen Krankenversicherungen ein Tor geöffnet, welches diese nun vermehrt nutzen, um die Leistungspflicht durch Eintritt der Genehmigungsfiktion zu umgehen.
Der 1. Senat versucht weiterhin dieser Ansicht entgegenzuwirken. In einer aktuelleren Entscheidung vom 07.11.2017 (B 1 KR 24/17) tritt er zudem entschieden der Auffassung der Krankenkassen entgegen, es sei eine Durchbrechung der Regelung des § 45 Abs. 1 SGB X aus einer entsprechenden Anwendung des § 42a Abs. 1 Satz 1 VwVfG abzuleiten. Es fehle dafür bereits an einer unbewussten Regelungslücke. Der Gesetzgeber habe die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eigenständig im Ersten Kapitel des SGB X für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden geregelt, die nach dem SGB ausgeübt werde. Die Regelungen unterscheiden sich gezielt teilweise von jenen des VwVfG des Bundes. Eine pauschale Lückenfüllung des SGB X durch Regelungen des VwVfG sei ausgeschlossen; erst recht gelte dies für eine Änderung der ausdrücklichen Regelungen des Ersten Kapitels des SGB X durch abweichende Rechtsgedanken des VwVfG. Im Übrigen seien der Regelung des § 42a Abs. 1 Satz 2 VwVfG überhaupt keine Rechtsgedanken entsprechend dem Vorbringen der Krankenkasse zu entnehmen. Aus dem jeweils berufenen Fachrecht und nicht aus § 42a Abs. 1 Satz 2 VwVfG folge, welcher Maßstab für die Rechtmäßigkeitsprüfung der Rücknahme eines fingierten Leistungsverwaltungsakts anzuwenden sei.
D. Auswirkungen für die Praxis
Im Alltag der Rechtsprechung folgen die Sozialgerichte nach wie vor der Rechtsprechung des 1. Senats. Gleichwohl hat der 3. Senat mit seinem Urteil den gesetzlichen Krankenversicherungen Tür und Tor geöffnet, um sich ihrer Leistungspflicht zu entziehen. Davon machen sie regen Gebrauch und erklären bereits die Rücknahme gemäß § 45 SGB X im Widerspruchsverfahren. Diese Argumentationen werden auch in den darauf folgenden Klageverfahren beibehalten. Besonders befremdlich erscheint diese Argumentation vor dem Hintergrund, dass der 3. Senat lediglich eine Tendenz einer hypothetischen zukünftigen Rechtsprechung geäußert hat. Die gesetzlichen Krankenversicherungen fühlen sich im Praxisalltag dennoch weiterhin dazu veranlasst, ihre Leistungspflicht aufgrund des Eintrittes der Genehmigungsfiktion durch mehrere Instanzen gerichtlich bestätigen zu lassen.
Der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers, einem spezifischem Systemversagen zu begegnen, nämlich der nicht zeitgerechten Entscheidung der Krankenkassen über einen hiervon erfassten Leistungsantrag, werden die Krankenkassen und auch der Gesetzgeber bedauerlicherweise nicht gerecht. In der Praxis ist es vielmehr so, dass fast sämtliche aus § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V entstehenden Ansprüche bisher gerichtlich durchgesetzt werden mussten. Die Sozialgerichte warten nur auf ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 41 Abs. 3 SGG, damit auch diese Klarheit haben und etwaigen Verweigerungen der Krankenkassen entsprechend begegnen können. Diesbezüglich bleibt noch abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung in der näheren Zukunft entwickeln wird. Für die Leistungsberechtigten wird es jedoch weiterhin ein langwieriger Prozess bleiben, die aus dem Eintritt einer Genehmigungsfiktion entstandenen Leistungen auch tatsächlich durchzusetzen.
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