Nachfolgend ein Beitrag vom 15.1.2018 von Eversloh, jurisPR-SteuerR 2/2018 Anm. 6

Leitsatz

Leistungen der sog. 24-Stunden-Pflege von privatrechtlichen Einrichtungen zur ambulanten Pflege waren in den Jahren 2005 und 2006 nur dann umsatzsteuerfrei, wenn im Vorjahr oder im jeweiligen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens 40% der Pflegefälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind. Diese Einschränkung ist weder unionsrechtswidrig noch verfassungswidrig.

A. Problemstellung

Die Steuerbefreiung von Pflegeleistungen ist immer wieder Gegenstand steuergerichtlicher Entscheidungen. Gemeinsam ist diesen Verfahren, dass die Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge von anerkannten Einrichtungen mit sozialem Charakter erbracht werden. Vorliegend ging es um Leistungen der sog. 24-Stunden-Pflege von privatrechtlichen Einrichtungen zur ambulanten Pflege. Diese waren in den Streitjahren 2005 und 2006 nur dann umsatzsteuerbefreit, wenn die Pflegekosten im Vorjahr oder im jeweiligen Kalenderjahr in mindestens 40 Prozent der Pflegefälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind.
Der BFH hatte zu klären, ob diese Regelung in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. verfassungskonform ist bzw. ob sie gegen Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g RL 77/388/EWG (jetzt: Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL) verstößt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger betrieb als Krankenpfleger seit 1995 als Einzelunternehmer einen ambulanten Pflegedienst mit zunächst fünf Pflegekräften. Seine Leistungen beruhten auf Verträgen mit Krankenkassen, Pflegekassen und Sozialämtern. Seit Ende der 1990er Jahre kam schwerpunktmäßig eine 24-Stunden-Pflege hinzu. Im Jahr 2003 gründete er eine GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer er war. Diese übernahm die 24-Stunden-Pflege und schloss mit Verbänden von Krankenkassen, mit der Bundesknappschaft sowie mit der Stadt Y als Sozialhilfeträgerin jeweils einen Versorgungsvertrag gemäß § 72 SGB XI. In den Jahren 2004 bis 2006 erreichte sie die in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in der für die Streitjahre 2005 und 2006 erforderliche 40%-Grenze nicht.
Der Gesetzgeber hielt diese Regelung für unionsrechtskonform (BT-Drs. 12/1368, S. 27; BT-Drs. 12/1506, S. 178). Die Senkung der ursprünglich 2/3-Grenze auf 40% erfolgte zur Anpassung an die gesetzliche Neuregelung der Pflegeversicherung, um diese Grenze an die bei Krankenhäusern geltende Mindestgrenze für das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen anzugleichen. Der BFH hat die Steuerbefreiung insbesondere versagt, weil der Kläger nicht als anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter anzusehen sei. Zwar sei der Begriff „Einrichtung“ grundsätzlich weit genug, um auch natürliche Personen (EuGH, Urt. v. 07.09.1999 – C-216/97 – Slg. 1999, I-4947 „Gregg“) und private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht (EuGH, Urt. v. 26.05.2005 – C-498/03 – BFH/NV 2005, Beilage 4, 310 „Kingscrest Associates und Montecello“) zu erfassen. Aber der EuGH hat judiziert, dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g RL 77/388/EWG die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht festlegt (EuGH, Urt. v. 10.09.2002 – C-141/00 – Slg. 2002, I-6833 „Kügler“; EuGH, Urt. v. 15.11.2012 – C-174/11 – UR 2013, 35 = DStRE 2013, 423 „Zimmermann“; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 5/2013 Anm. 6). Es sei Sache der nationalen Gesetzgebers, Regelungen für die steuerliche Anerkennung von Einrichtungen festzulegen (EuGH, Urt. v. 21.01.2016 – C-335/14 Rn. 46 f. – MwStR 2016, 235 = UR 2016, 391 „Les Jardins de Jouvence“; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 10/2016 Anm. 5; EuGH, Urt. v. 15.11.2012 – C-174/11 Rn. 37 „Zimmermann“), so dass die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil von Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden. Ob die Kosten im konkreten Fall dann tatsächlich übernommen worden seien, sei nicht entscheidend. Vielmehr reiche es aus, dass sie zu übernehmen seien. Die Annahme des Klägers, die Anerkennung dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Kosten „überwiegend“ von den gesetzlichen Sozialversicherungs- und Sozialhilfeträgern übernommen werden, widerspreche Rn. 37 des EuGH-Urteils „Zimmermann“.
Auch ansonsten bestehe keine Abweichung von der EuGH-Rechtsprechung. Denn danach sei es grundsätzlich Sache des einzelnen Mitgliedstaats, Regeln für die Anerkennung einschlägiger Einrichtungen aufzustellen und die Steuerbefreiung von in Art. 13 Teil 1 Buchst. a RL 77/388/EWG genannten Bedingungen abhängig zu machen.
In den Streitjahren galt die nationale Regelung, dass die Anerkennung von der Einhaltung der 40%-Grenze abhängig war. Diese Regelung sei mit dem Unionsrecht vereinbar, da sei die Bedingung für die Steuerbefreiung erfülle, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssten. Unionsrechtswidrig sei eine gesetzliche Regelung, bei der bei der Grenze auf die Umsätze des Vorjahres zurückgegriffen werde. Die Gründung der GmbH sei vorliegend im Jahr 2003 erfolgt; Streitjahre seien die Jahre 2005 und 2006. Im vorliegenden Fall habe der Kläger die 40%-Grenze aber auch dann nicht erreicht, wenn man auf die Umstände des laufenden Kalenderjahres und nicht auf die Umsätze des jeweiligen Vorjahres abstelle.
Die vom BFH vertretene Auffassung verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Neutralität und gegen den Gleichheitsgrundsatz im Vergleich mit der Regelung der Steuerbefreiung für Leistungen von Wohlfahrtverbänden in § 4 Nr. 18 UStG. Denn § 4 Nr. 16 UStG gehe der Regelung des § 4 Nr. 18 UStG vor, wenn die betreffenden Leistungen im Falle ihrer Ausführung durch privatrechtliche Einrichtungen umfasst werden könnten (BFH, Urt. v. 08.08.2013 – V R 8/12 – BFH/NV 2014, 119). Im Hinblick auf den Hinweis des Klägers, dass das Abstandsgebot des § 4 Nr. 18 Buchst. c UStG nicht eingehalten sei, habe das Finanzgericht keine Feststellungen getroffen. Eine Rückverweisung an das Finanzgericht sei aber nicht erforderlich, da eine unzutreffende (Nicht-)Besteuerung eines Konkurrenten (nur) mit der Konkurrentenklage geltend gemacht werden könne (BFH, Urt. v. 24.01.2013 – V R 34/11 – BStBl II 2013, 460), die entgegen der Auffassung des Klägers nicht unzumutbar sei.
Die o.a. „Sozialgrenzen“ seien auch nicht verfassungswidrig (BVerfG, Beschl. v. 31.05.2007 – 1 BvR 1316/04 – BFH/NV 2007, Beilage 4, 449, zu § 4 Nr. 16 Buchst. b UStG; BVerfG, Urt. v. 19.06.2008 – 1 BvR 994/08). Das vom Kläger angeführte Gebot der Folgerichtigkeit betreffe einerseits nur das Ertragsteuerrecht und sei durch die Beschränkung der Steuerbefreiung auf die vom EU-Mitgliedstaat Deutschland anerkannten Einrichtungen nicht verletzt. Der Senat weiche mit seiner Auffassung zudem nicht vom BFH-Urteil vom 18.08.2015 (V R 13/14 – BFH/NV 2015, 1784) ab, da in diesem Fall die 40%-Grenze eingehalten worden sei.
Angesichts der EuGH-Urteils „Zimmermann“ gebe es keine Zweifel i.S.d. Art. 267 AEUV an der Auslegung der im Streitfall anzuwendenden unionsrechtlichen Bestimmungen, so dass eine EuGH-Vorlage ausscheide.
Die Personalgestellung sei im Jahr 2006 umsatzsteuerbar und umsatzsteuerpflichtig, da sie keine mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherung eng verbundene Dienstleistung sei (BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 20/12 – BStBl II 2014, 90; Anm. Eversloh, jurisPR-SteuerR 19/2014 Anm. 6; in Übereinstimmung mit EuGH, Urt. v. 12.03.2015 – C-594/13 – BStBl II 2015, 980 „go fair“), wobei es insoweit irrelevant sei, ob die betreffenden Arbeitnehmer Pflegekräfte waren. Regelungen des AÜG führten zu keiner abweichenden umsatzsteuerrechtlichen Bewertung, da das Umsatzsteuerrecht an tatsächliche Vorgänge anknüpfe, ohne auf ein ggf. bestehendes gesetzliches Verbot (§ 40 AO) oder die zivilrechtliche Wirksamkeit der zugrunde liegenden Verträge (§ 41 Abs. 1 Satz 1 AO) abzustellen. Die Regelungen des AÜG änderten an der umsatzsteuerrechtlichen Bewertung jedenfalls so lange nichts, wie der Vertragsparteien die Personalgestellung trotz der Regelungen des AÜG tatsächlich durchführen.

C. Kontext der Entscheidung

Der BFH hatte bereits im Urteil vom 08.08.2013 (V R 13/12 – BFH/NV 2014, 123; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 7/2014 Anm. 6) den Vorrang der Regelung des § 4 Nr. 16 UStG vor derjenigen des § 4 Nr. 18 UStG festgestellt. § 4 Nr. 18 UStG betrachtet er als lex generalis. Dem ist der XI. Senat des BFH nunmehr gefolgt. Damit weicht der XI. Senat von seiner bis dato ergangenen Rechtsprechung (BFH, Urt. v. 19.03.2013 – XI R 47/07 – BFH/NV 2013, 1204) ab.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die vom BFH vertretene Auffassung, dass § 4 Nr. 18 UStG gegenüber § 4 Nr. 16 UStG subsidiär sei, wird durchaus angegriffen. Denn § 4 Nr. 18 UStG enthält keine derartige Festlegung. Der Gesetzgeber hat die im Entwurf des JStG 2013 ursprünglich vorgesehene Subsidiarität des § 4 Nr. 18 UStG eben nicht Gesetz werden lassen. Sollte er dies anders regeln wollen, müsste das Gesetz geändert werden (so zu Recht Schmitz/Erdbrügger, DStR 2010, 846, 847), was aus Gründen der Rechtssicherheit für die Wohlfahrtsverbände wünschenswert ist. Das gilt auch im Hinblick auf die Sozialgrenze. Der BFH folgt der Rechtsprechung des EuGH insoweit, als immer nur das laufende Jahr, nicht dagegen das Vorjahr als maßgebend angesehen wird (das blieb im vorliegenden Fall allerdings ohne Auswirkung). Auch hier wäre eine gesetzliche Anpassung notwendig, da ein Festhalten an der Maßgeblichkeit des Vorjahres wünschenswert wäre, aber gegen Unionsrecht verstoßen würde.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der BFH hat im Besprechungsfall klargestellt, dass die Verpachtung eines Kundenstamms keine Geschäftsveräußerung im Ganzen darstellt. Zudem hat sich der XI. Senat nunmehr der Auffassung des V. Senats bezüglich des Endes der Organschaft bei Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters für die Organgesellschaft angeschlossen (BFH, Urt. v. 08.08.2013 – V R 18/13 – BStBl II 2017, 543), wenn das Insolvenzgericht zugleich gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO anordnet, das Verfügungen nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind (vgl. auch EuGH, Urt. v. 16.07.2015 – C-108/14 und C-109/14 – BStBl II 2017, 604 „Larentia+Minerva und Marenave Schifffahrt“; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 43/2015 Anm. 6).

Umsatzsteuerbefreiung für Umsätze der ambulanten Pflege
Thomas HansenRechtsanwalt
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